Die Hexenverfolgung oder:
Zur Durchsetzung sexualfeindlicher Moral in Europa
von Ottmar Lattorf

Part 1 of :

Part 1 , Part 2 , and Part 3

Dieser Artikel von Ottmar Lattorf in der vorliegenden Form wird 1997 durch seine endgültige Fassung ersetzt werden, in denen die wichtigen Fußnoten zu finden sind, die diesem Artikel leider fehlen. Für weitere Informationen wenden Sie sich bitte direkt an Ottmar Lattorf, Mannsfelderstr. 17, 50968 Köln, Tel: 0221/34 11 82. Die Vortragsreihe von Ottmar Latorf 1997 finden Sie bei uns zum gegebenen Zeitpunkt im Veranstaltungskalender.

Die DOS-Redaktion

Die Hexenverfolgung.... oder: Zur Durchsetzung sexualfeindlicher Moral in Europa

von Ottmar Lattorf

1.Vorbemerkung und Einleitung

Die Auseinandersetzung mit der Dissertation von James DeMeo über den "Ursprung und die Ausbreitung des Patriarchats" durch Vorträge und Arbeitskreissitzungen haben mich in engerem Kontakt zu schon vorhandenen, feministischen, sozialwissenschaftlichen und historischen Arbeiten zu dem gleichen Thema geführt. Die In- augenscheinnahme und die Lektüre einiger dieser Arbeiten und die Hinweise, die ich von Maria Mies erhalten habe, führten mich zu Erkenntnissen und Schlußfolgerungen, die ich im Hinblick auf die sexualökonomische Bildungsarbeit hier skizzieren möchte.

Marija Gimbutas, Heide Göttner-Abendroth, James DeMeo und andere haben gezeigt,daß es eine lange, friedliche, kulturschaffende, (matriarchale) Periode in der Geschichte der Menschheit gegeben haben muß. Die etablierte akademische Meinung hält das für Unfug - allerdings ohne daß auf Abendroth, De Meo oder Guimbutas eingegangen wird. Daß es einen radikalen Umbruch im Charakter einiger menschlicher Gesellschaften von friedliebend, sexualbejahend und kulturschaffend, zu männerdominierend, autoritär, sexualfeindlich und despotisch gegeben hat, kann heute nicht mehr ernsthaft bestritten werden. Es gibt zu viele Indizien und Belege hierfür.

DeMeo hat m.E. als erster plausibel erklären können, wie das Patriarchat und seine bedeutsamste individuelle Basis, die "emotionale Panzerung" als eine Katastrophen-Notmaßnahme, 4000 vor Christus, zunächst lokal begrenzt, entstehen konnte. Daran anschließende Etappen und qualitative Veränderungen, wie z.B. die Herausbildung von privatem Grund- und Bodeneigentum, und die schlußendliche Modifikation des Patriarchats zu dem uns heute bekanntem Zustand sind bereits von verschiedenen Forschern unterschiedlicher Disziplinen aufgehellt und rekonstruiert worden, allerdings ohne daß es eine entsprechend überschauende und resümierende Arbeit dazu gibt. Obwohl es sich in den meisten Fällen um Wissenschaftler und Forscherinnen handelt, die nicht mit den Reich'schen Erkenntnissen vertraut sind oder ihnen manchmal sogar ablehend gegenüber stehen, lassen sich dennoch jede Menge wichtiger Details und Hinweise auf den ökonomischen, sozialen, moralischen, sexualökonomischen Prozeß finden, die erklären, wie und in welcher Vorzeit das Menschentier so dermaßen von seiner biologischen Natur entfremdet werden konnte. Freiwillig ist das jedenfalls nicht geschehen! Und: die Ausbreitung des Patriarchats mit allen psycho-sexuellen, sozialen, ökonomischen und ökologischen Nachteilen ist keineswegs ein abgeschlossener historischer Akt, sondern es handelt sich um einen dynamischen Prozeß, der heute lediglich andere Formen hat, als zu Beginn der Neuzeit oder vor der Antike. Heute hat dieser Zerstörungs-Prozeß allerdings Dimensionen, die weit über unsere psycho-sozialen und ökonomischen Belange hinausreichen. Ich erinnere, an die sich abzeichnende Klimaveränderung, an das Artensterben, die sich ausbreitenden Wüsten, die Regenwaldzerstörung, die zunehmenden Vergiftungen unserer Lebensräume und an die zunehmende Verelendung der Menschen und an die weltweite Kulturzerstörung unter der Knute der Großbanken. Und das nicht nur in der sog. 3. Welt, sondern mehr und mehr auch hier in den industriellen Metropolen und an die vielen weiteren ungelösten Schwierigkeiten, die auf die Menschheit zurollen. Von den 6000 Jahren Patriarchatausbreitung, die der Planet gesehen hat, möchte ich mich im folgenden Artikel nur auf eine wesentliche Etappe, auf die europäische Hexenverfolgung konzentrieren.

Die Geheimnisse patriarchaler Gesellschaften liefen zu allen Zeiten auf Gewalt und Betrug hinaus. Die patriarchalen Römer z.B. überfallen alle umliegenden weniger patriarchalischen, halb matriarchalen Stämme, löschen sie aus oder verwandeln die Überlebenden in Sklaven. Durch die ökonomisch-militärische Ausbreitung patriarchaler gesellschaftlicher Formationen wurden die so ökonomisch unterworfenen Menschen in ihrem emotionalen Empfinden und in ihren sozialen Beziehungen nicht direkt und quasi automatisch emotional gepanzert, wahrnehmungsgestört oder neurotisch. Die Unterworfenen: die Heiden, die Ketzer, die verfemten Menschen, die Hexen und überfallenen Stämme haben sich zu allen Zeiten gegen den militärischen, physischen und moralischen und später dann sozialen Druck in Richtung emotionaler Panzerung , Abtötung von Genußfreudigkeit, gewehrt. Diese moralische und sexualökonomische Anpassung an den ökonomischen Druck der patriarchalen, feudalen und später kapitalistischen Wirtschaftsweise hat ja für die, die noch genußfähig, gemeinschaftsfähig, und noch nicht emotional gestört waren, konkret bedeutet, daß sie unter Androhung härtester Strafen ,auch Todesstrafen, auf Lust, Spaß, Sexualität, Wohlbefinden, Körper-, Beziehungs- und Kulturpflege verzichten mußten! Der Widerstand dagegen war natürlicherweise groß. Nur mittels brachialer Gewaltanwendung über die letzten 500 Jahre und mittels perfider Manipulation der erreichbaren Menschen konnte über Generationen zuerst in Europa dieser Widerstand gebrochen werden. Eins der folgenschwersten Ereignisse bei der Durchsetzung der sexuellen Zwangsmoral in der Geschichte des Patriarchats und der beinahe vollständigen Neurotisierung des modernen Menschen war die Hexen-Hebammen- Verfolgung zu Beginn der Neuzeit. Das was uns heute als sexuelle - emotionale, neurotische Störungen der Menschen, als notwendige und zwanglose Folge des christlichen Glaubens daherkommt, ist in Wahrheit Resultat eines kirchlich und staatlich organisierten Mordens, das sich über Jahrhunderte erstreckt hat. Die Entstehung sexualfeindlicher, bürgerlich-heuchlerischer und autoritätshöriger Erziehung ist ihrerseits das schwerwiegende Folgeprodukt, die sanfte Fortsetzung des Scheiterhaufens, und historisch betrachtet nicht der Beginn für die Zerstörung der Liebesfähigkeit im Menschen.

Noch ein Wort zu meiner Vorgehensweise: Es schien mir sinnvoll, davon auszugehen, daß es sich bei dem mittelalterlichen- feudalen wie auch dem neuzeitlichen Patriarchat nicht um eine, im sozialen Sinne homogene Gesellschaft gehandelt hat. Ich spreche also nicht von klassenneutralen Menschen, sondern z.B. von Angehörigen der Oberschicht oder der unterjochten Unterschicht. Diese Unterscheidung ermöglicht die getrennte Untersuchung der unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereiche; denn das Sozialverhalten, die moralischen Wertvorstellungen, die Bildung, die Sozialisation und das Selbstverständnis innerhalb der herrschenden Sklavenhalter-, der feudalen oder auch der bürgerlichen Oberschicht, unterscheiden sich zum Teil gewaltig von den Selbstverständnis, dem emotional-sexuellen Verhaltensmustern in der jeweilig unterjochten abhängigen Bevölkerung. Teilweise - und das werden wir im Laufe der Arbeit genauer sehen - haben sich diese unterschiedlichen Verhaltensmuster gegenseitig beeinflußt.

Im Folgenden werde ich versuchen, drei zusammenhängende Sachverhalte zu schildern:

--Einblicke in das Sozialgefüge der mittelalterlichen Gesellschaft im Hinblick auf die Sexualökonomie der Menschen vor der Hexenverfolgung. --Einiges über die Hexenverfolgung und ihre ökonomischen, sozialen und psychologischen Ursachen. -----Einiges Wissenswerte über die Entwicklung und Hintergründe des Frauen- und sexualfeindlichen Wahns in der theoriebildenden, gesellschaftlichen Oberschicht.

2. Über das "Hexenwesen" im Mittelalter Oder von den sexualfreundlichen Überbleibseln archaischer Lebensgewohnheiten europäischer Stämme

Das römische Imperium als politisches Gebilde bricht ca. 480 n.Chr. mangels Arbeitskräften zusammen. Jedoch nicht ohne die feudale Abgabewirtschaft auf den Weg gebracht zu haben. Das war eine Wirtschaftsweise, die den ökonomischen Lebensinteressen der Unterjochten wenigsten soweit entgegenkam, daß sie zumindest gewillt sein konnten, sich selber wieder fortzupflanzen und somit die Reichtumsgewinnung der Herrschenden abzusichern. Nach den Invasionen der Römer, und nach der sogenannten "Völkerwanderung" (die ganz und gar nicht zu vergleichen waren mit geordneten Spaziergängen größerer Volksscharen etwa durch germanische Wälder), und nach der militärischen Ausbreitung der Nachfolge-Imperien der Römer in Europa, fanden sich die meisten überlebenden Mitglieder europäischer Stämme (Usipeter, Eburonen, Sigamber, Treverer usw.) als wirtschaftlich von den überfallenden Truppen abhängige Leibeigene und als hörige Bauern der neuen katholischen, herrschenden Schicht wieder. Die letzten, auf deutschem Boden sich erbittert wehrenden und um ihre Autonomie kämpfenden Völker waren die Friesen und die Sachsen. Die Sachsen wurden in einem brutalen, 30 Jahre dauernden Krieg ( 772 -804 n.Chr.) von der militärischen Übermacht Karls des Großen unterworfen. Die germanischen Stammesverbände wurden zerstört, die Stammesreligionen verboten, Zwangschristianisierung angeordnet Diese Maßnahmen lassen sich vergleichen mit der Drangsalierung der nordamerikanischen Indianer in den letzten 200 Jahren.

Das konkrete soziale Leben der so hörig gemachten Bauern auf dem Lande war noch sehr von den archaischen (auch matriarchalen) traditionellen Werten und Lebensweisen der ehemaligen Stammesgesellschaften geprägt. In einem Buch des Abts Regino von Prüm, 906, über die Durchsetzung christlicher Weltvorstellungen bei der damaligen Bevölkerung wurden heidnische Praktiken beschrieben, die geächtet wurden und daher verschwinden sollten. So ist in diesem Buch "die Rede von Gelübden an Bäumen, Quellen und an gewissen Steinen, die gleichsam als Altäre betrachtet und mit Lichtern (candela) besetzt wurden. Solche dem Dämon geweihten Bäume", so wird angeordnet, sind mit Wurzel auszuheben, desgleichen sind die heidnischen Opfersteine zu beseitigen. Zu Anfang des Januar sollen heidnische Gebräuche fernbleiben, auch darf nicht an Glücks- oder Unglückstage oder an den Einfluß der Gestirne auf das Geschick der Menschen geglaubt werden. Keine Arbeit darf mit Zaubersprüchen oder symbolischen Handlungen begonnen werden, so darf man beim Sammeln von Arzneipflanzen nur das Vater unser" und namentlich auch das Glaubensbekenntnis hersagen." Es heißt weiter ..."unter Anführung eines Konzil-Beschlusses, daß Christen bei der Totenwacht mit Furcht und Ehrerbietung zu Werke gehen müssen; Zauberlieder, Scherze und Tänze bei solchen Gelegenheiten seien eine von Heiden auf Lehre des Teufels hin gemachte Erfindung." Ferner läßt der getreue Abt fragen: "Hast du irgendeinen aus Kräutern und anderen Stoffen bereiteten Zaubertrunk getrunken, um kinderlos zu bleiben oder hast du gekostet de semine viri, damit er in Liebe zu dir entbrenne?"

Das führt uns zu Veranstaltungen und Riten unserer europäischen Vorfahren, den sogenannten "Heiden", was im übrigen neben Landbevölkerung auch eine Bezeichnung für jemand war, der das Heid", die göttliche Kraft" ( Orgonenergie ?) verehrte. Die Rede ist von nächtlichen Festen an ausgewählten Orten in der Natur, die später - während der Zeit der Hexenverfolgung - als Sabbate bezeichnet werden sollten. Die alten archaischen Naturreligionen - von welchen das Hexenwesen herstammte - hatten die Verehrung der Schöpfungskräfte von Mutter Natur , der Verwandtschaft aller Lebensformen, der Fruchtbarkeit der Lebewesen, die Feier des Lebens und der ungeheuren Kraft der menschlichen Sexualität zum Inhalt. Man fühlte sich auf unterschiedlichste Weise mit allen Kreaturen verwandt und fühlte sich integriert in den ewigen Kreislauf allen Lebens. Fast alle frühen Völker hatten eigene Riten und Feste zur Verehrung der weiblichen Fruchtbarkeit, der sexuellen Kräfte und der körperlichen Liebe.

Religion bedeutete die gemeinschaftliche rituelle Rückbindung der Menschen auf die Kräfte der Natur und gleichzeitig die Pflege der eigenen körperlichen und auch sexuellen Energien und der mentalen Potentiale. Es schien nur logisch, mittels nachahmender Magie z.B. durch Geschlechtsverkehr auf dem Acker, den man bestellt hatte, eine gute Ernte zu erflehen. Es ging darum, sich als Wesen in den großen Kreisläufen der Natur und als Teil einer Gemeinschaft zu bestätigen. Verhaltensanweisungen, Moralität, Glaubensbekenntnisse, autoritäre Dogmen, hatten ursprünglich wohl nichts mit Religion zu tun und sind erst mit der Verwendung religiös verbrämter Herrschaftsideologien und der Ausbreitung emotionaler Panzerungen in die Welt gekommen.

"Ein wesentlicher Unterschied zwischen dem Gottesdienst des Hexenkultes und dem anderer westlicher Religionen besteht in der Kleidung. Die meisten Leute machen sich fein für den Kirchgang. Hexen zogen sich aus. Der Hauptgrund liegt darin, daß die Hexen an eine Kraft glaubten, die in ihrem Körper existiert. Diese Kraft strahlt von ihrem Körper aus und würde durch die Kleidung behindert. Diese Kraft ist die Magie des Hexenkultes. Der Glaube daran ist die Essenz dieser Religion." Diese Gottesdienste fanden des Nachts z.B. zu Vollmond statt und waren zugleich Treffpunkt, um wichtige Informationen auszutauschen, Massenpicknick, Karneval, Trink-Sexual-Orgie und Heilungszeremonie.

Um die Bedürfnisse nach einer relativen Abgeschiedenheit vor unerwünschten Zuschauern, Häschern oder später den Hexenverfolgern zu gewährleisten und um ungestört die Lust an einer derben und lautstarken Ausgelassenheit (dem "Heidenlärm") zusammenzubringen, waren sie gezwungen, ihre Festivitäten weit draußen in der Wildnis, auf Feldern, in Wäldern, auf abgelegenen Lichtungen, in Höhlen oder Feenkreisen, abzuhalten. Von Mitternacht bis zum Hahnenschrei dauerten diese Feste, von einer Versammlung einer Gemeinschaft, die in allem zeigen wollte, wie sehr sie sich als eng verbundenen Kreis ansahen, über eine Versammlung von fahrenden Schülern, jungen Rittern auf der Suche nach Weisheit und besonders nach der großen Liebe, Gesellen, denen es um das wahre Rätsel der Meisterschaft in ihrem Beruf ging, Hebammen, Kräuterhexen, Musikanten und Gaukler," bis hin zum verschwiegenen, sakralen Treffen weniger, noch verbliebener Träger einer verfemten, geächteten und untergehenden archaisch-matriarchalen Lebenskultur - sie alle trafen sich an jenen lodernden Feuern in den Vollmondnächten - je nachdem wie massiv die kirchliche, staatliche und soziale Verfolgung eingriff.

Wichtigster Bestandteil der Treffen war der Tanz. Einerseits war er eine religiöse Handlung, um übernatürliche Hilfe durch Pantomime oder durch Tier- Verkleidungen und Anmalen zu erhalten, andererseits war er emotionaler Stimulus. Getanzt wurde natürlich nicht ohne Musik. Es gab rituelle Tänze zu Beginn solcher Treffen, dann aber auch solche, die nach dem obligatorischen Festschmaus stattfanden. Die letzteren dienten dem Abbau von Hemmungen, um z.B. in emotionale Ekstase zu gelangen. Doch nicht nur das: nach weiteren Tanzphasen pflegten die Teilnehmer/innen ihre sexuellen Interessen, gaben sich der geschlechtlichen Liebe hin. Diejenigen, die an solchen Festen teilnahmen, scheinen sich "bestens unterhalten zu haben." Eine junge Frau sagt vor einem französischen Inquisitor: "Der Sabbat war ein wahrhaftes Paradies, in dem unbeschreibliche Freude herrschte, die dort waren, fanden, daß die Zeit zu schnell verging bei soviel Glück und Vergnügen. Sie bedauerten es sehr, das Fest verlassen zu müssen, und wünschten schon den Zeitpunkt herbei, an dem sie wieder kommen könnten."

"Die Sabbate lebten noch Jahrhunderte als Volksfeste weiter, nachdem der Hexenkult in den Untergrund vertrieben worden war. Ein Beispiel sind die Maifeste, die überall während des 18. Jahrhunderts gefeiert wurden. Diese Feste hatten keine bewußte religiöse Bedeutung, aber Masken, Festmähler, Tänze und freie Liebe waren Bestandteil dieser Feiern."

3. Mittelalterliche vorbeugende Gesundheitspflege

Die uns heute bekannte Schulmedizin gab es im Mittelalter nicht. Die arme Bevölkerung konsultierte in Fällen von Krankheit, Unbill oder auch bei Geburten die erfahrenen weisen Frauen, Saga, Venefica, Bella Donna oder auch Brauchweiber genannt, "die die Bräuche des Heilens, zuweilen auch des Verderbens, kannten." Solche überdurchschnittlich begabten "und in einer langen archaischen Tradition stehenden" Frauen besaßen ein hohes und auch gefürchtetes Ansehen, unabhängig von ihrer sozialen Stellung im Dorf. Sie kannten sich mit den Sitten und Bräuchen - genau nach der Vorschrift - aus, wußten Reime und Sprüche für Kindtaufen, Hochzeiten und Begräbnisse zusammenzustellen und sorgten bei Hochzeiten mit für Stimmung. Da sich ihre spezielle Begabung meist auf das Gebiet der Volksmedizin erstreckte, auf magische Heilungen und Beschwörungen (in der süddeutschen Volkssprache als "brauchen" bezeichnet), erklärt sich ihre Bezeichnung als Brauchweiber" Eine weitere Variation dieser lustfördernden nächtlichen Versammlungen waren die Wildbäder an warmen Quellen , Maienbäder oder auch später in den Dörfern und Städten die sogenannten Badehäuser. Allerdings hatten diese Versammlungen bzw. das Leben in den dörflichen und städtischen Badehäusern mehr noch den Charakter vorbeugender Gesundheitspflege. Der volkstümlichen Medizin ging es bei diesen Be-Handlungen, bei diesen Treffen weniger um die Rettung von Schwerkranken als vielmehr um das "Erfülltsein von der großen Kraft."

"Sehr wichtig ist," so die archaische Vorstellung, "daß man beim Menschen, der irgendwie auf trübe Gedanken gekommen ist, zuerst einmal die Lebensfreude emporsteigen läßt. Dann erst sind Körper und Geist bereit, von neuem die guten Kräfte der Natur aufzunehmen." Dieselbe Gewährsfrau, von der dieser Zitat stammt, erzählt Golowin von den Angehörigen der Stämme ihrer Heimat, die noch mit "mehr als 100 Jahren " die Zeugungskraft besaßen: "fühlten sie sich ein wenig unwohl, dann warteten sie gar nicht ab, bis sie in Verzweiflung gerieten, dadurch die Säfte ihres Körpers völlig vergifteten und dann nachträglich Opfer irgendeiner Seuche wurden. Ihr Stamm bereitete für die gebrechlichen Alten, wenn sie ihnen so wichtig waren, daß sie sie noch auf der Erde zurückhalten wollten, bei zunehmendem Mond ein schönes Fest. Man musizierte für sie und die jungen Mädchen des Stammes tanzten für sie. Freuten sich die Alten wieder am Leben, lachten und tanzten sie gar selbst, dann war die Gefahr zunächst einmal gebannt und sie konnten sich jungen Leuten gleich aufführen." Auch das Maienbad sollte die "Lebenskräfte" der Gesunden so erneuern, daß sie "für ein ganzes Jahr nicht nur nicht erkrankten, sondern ihr Dasein voll genießen durften." Die Heilung sollte "zwölf Monate dauern, dann muß sich der Mensch wieder verjüngen! Sonst kommt nach der strengen und sonnenarmen Winterzeit der dreizehnte Monat, der das Unglück bringt. Diesen dreizehnten Monat muß man der Gesundheit widmen und alle seine Lebenskräfte im Mai wecken. Dann kann man sich sicher sein, die darauffolgenden zwölf Monde stark und gesund zu bleiben.

"Zu den Kuren an warmen Quellen oder auch in den dörflichen Badehäusern, zusammen mit den Erheiterungen durch die Bademädchen, gehörte nicht nur fortgesetztes Baden in den Bottichen "mit reinem Quellwasser", sondern auch die Teilnahme am großen Bad der Verjüngung, das sich die ganze Natur selber gewährt, um im neuen Frühling und Sommer mit ihrer Fruchtbarkeit beginnen zu können." Man hatte die Vorstellung, "daß schon die Luft des Wonnemonats Mai heilsam ist; heilsamer noch der Morgentau, mit dem man sich wäscht und den man sammelt wie auch ein Bad in der Mainacht oder in der Frühe des Tages von besonderer Wirkung ist.". Körperteile, die man mit dem Maitau wusch, würden ein Jahr lang nicht mehr altern. Allerdings galt es als schlecht, während des Waschens zu sprechen. Nackte Menschen, die da in der Nacht auf den 1.Mai tanzten und nackt in den heiligen Quellen oder im Tau der Wiesen badeten, galten den christianisierten, un-informierten Zeitgenossen und später den Häschern der Inquistion als Angehörige eines unheimlich magischen Bundes, der seinen Sabbat beging. Trägerinnen dieser volkstümlichen Gesundheitspflege waren die weisen Frauen und die Baderinnen, die im übrigen auch der Meinung waren, daß man im Maien jede Müdigkeit und den einhergehenden Lebensüberdruß "nur verlieren kann, wenn die Menschen am anderen Geschlecht wieder Freude fanden."

3.1 Das Badehaus und andere "unzüchtige" Sitten des leibeigenen Volkes

Aus den nächtlichen archaischen Sabbaten" die ja damals ganz andere Namen hatten,entwickelten sich im Laufe der Zeit unter dem sittenpolizeilichen Druck der katholischen Kirche in den langsam entstehenden Städten die Badehäuser und die Badehauskultur.

In fast allen Berichten über die mittelalterliche Badehauskultur, ob es sich nun um architektonische Darstellungen der Badestuben oder Beschreibungen des Berufsstandes der Bader und Baderinnen handelt, schimmert überall die heitere, laszive und derbe Ausgelassenheit der Ereignisse durch, die sich wohl in den Badehäusern zugetragen haben müssen. "Das kultisch-brauchtümliche dieser Riten trat allerdings mehr und mehr in den Hintergrund: die Badeerotik steigerte sich, losgelöst, 'verweltlichte' zum geselligen Zeitvertreib." Resümierend könnte man sagen, daß das Badehaus eine besondere Mixtur aus Diskothek, Hallenbad und Bordell (allerdings auch für Frauen!) war. Wobei es im Unterschied zu den gleichzeitig existierenden, echten (Bade)Bordellen nicht um bezahlte Prostitution von Männern und Frauen ging, sondern um die damals gewöhnliche Art ganzheitlicher Körperpflege und Geselligkeit. Es lassen sich die Badehäuser in beinah jedem auch noch so kleinen Ort im europäischen Mittelalter nachweisen. "Die besondere Note des mittelalterlichen Badewesens ist sein unverhüllt libidinöses, oft geradezu orgiastisch anmutendes Gepräge." Das Badehaus war auch "der Mittelpunkt der volkstümlichen Heilkunst".

Das Bad wurde meistens in Gesellschaft, zu festgesetzten Zeiten, besucht, weil das Heizen der Badestuben sonst zu teuer gekommen wäre. Der Weg von der Wohnstätte im Dorf bis zum Badehaus wurde oft nur mit einem Hüfttuch oder unbekleidet zurückgelegt. Während des Bades und danach wurde gemeinsam gegessen, getrunken und gesungen und wen die Lust anwandelte, der durfte je nach Neigung frivolen Amüsements oder derbsten erotischen Ausgelassenheiten nachgehen. Zeitgenössische Quellen erwähnen immer wieder, daß dabei durchaus Gleichberechtigung zwischen den Geschlechtern geherrscht habe.

"Der Mann trug höchstens einen knappen Lendenschurz, die sogenannte Niederwadt, oder auch nur eine sogenannte Wadel, ein kleines Reisigbüschel, in der Hand, zum Bedecken der Geschlechtsteile, wenn er aus dem Bade stieg. Die Bekleidung der Frau war gleich negativer Art; sie bestand in der sogenannten Bader, einem Schurz, der sie nur notdürftig bedeckte. Die Frau zeichnete sich sogar dadurch aus, daß sie sich den Blicken viel häufiger nackt zeigt als der Mann. Dafür unterließ jedoch die Frau nicht, sich in anderer Weise anzuziehen: sie pronocierte ihre Nacktheit, indem sie sie zur Ausgezogenheit machte. Das erreichte sie durch den sorgfältigsten Aufbau ihrer Frisur und indem sie blitzendes kostbares Geschmeide im Bade anlegte: Halsketten, Armbänder und ähnliches; jetzt war sie die ausgekleidete pikante Dame. Aus der ursprünglichen Not hat man so zu eigener und fremder Ergötzung eine Tugend gemacht.

Diese Sitte des gemeinsamen Badens beider Geschlechter und der häufigen völligen Nacktheit der Frau herrschte ungemindert bis ins 13. und 14. Jahrhundert..." In vielen Badestuben befanden sich eine oder mehrere Kammern, in die ein genügend erhitztes Paar sich nach Belieben zurückziehen konnte, um das im Bad begonnene Spiel dort zum beiderseits erwünschten Ende zu führen." Man war der Meinung, daß während des stundenlangen Besuchs in den Badehäusern erst dann die Kräfte und Säfte in Bewegung geraten, - und damit die besten Voraussetzungen für die Gesunderhaltung geschaffen sind - wenn diese durch sinnliche Darbietungen aller Art gefördert und flankiert wird. Es ging um die Stimulierung aller, auch der sexuellen Sinne und illustriert, daß in alter Zeit die Volksmedizin und die Künste der Lustbarkeiten ( wie Musik, Tanz, Theater) eine große untrennbare Einheit darstellte.

Die Bademädchen waren keine käuflichen Dirnen, sondern gehörten zu den Frauen, die sich nicht nur mit "dem richtigen Gebrauch der guten Wasser" oder besonderer Kräutermischungen auskannten was wohl eine echte Wissenschaft war. Sondern sie waren auch Expertinnen in Sachen Tanz, Musizieren, Singen, Massagen usw. und genossen insofern großes Ansehen. Aus dem 14.Jahrhundert wissen wir "aus Mönchskreisen über die Bäder von Wiesbaden, sie seien "Fest des Bauches, öffentliches Haus der Venus, Spielwerk des Teufels." Es wurde damals geradezu behauptet, daß sogar sehr anständige Frauen von einem Besuch dieser Orte "als Teufelsweiber heimkehrten." Auch aus den Überlieferungen über die "Alpen-Bäder" weiß man noch "von wallenden Dämpfen, die zusammen mit der Musik und dem Tanz der Bademädchen die Menschen im Wasser in eine Laune brachten, daß sie glaubten, sie seien im irdischen Paradies und alles um sie herum sei schön."

3.2 Im Bett

Einen weiteren interessanten Hinweis auf die in sexueller Hinsicht ungezwungenen Sitten des ausgehenden Mittelalters haben wir aus den Darstellungen über die gemeinschaftlich genutzten Schlafstätten im Gesindehaus. Während es im 14.Jahrhundert in der adeligen und klerikalen Herrschaftsschicht eine Entwicklung in Richtung zum Privaten gibt (=das Gegenteil vom Geselligen und bezeichnet schließlich das Zurückgezogene), wird zur Zeit des Mittelalters im strohgedeckten Gesindehaus oder in den Herbergen das gerade Gegenteil gelebt: für die Mehrheit der Bevölkerung gab es Gemeinschaftsbetten, in die sich Männer, Frauen, Tanten, Kinder, Diener, Mägde, und manchmal auch die Herren, drängten "und in dem, sehr zum Mißfallen der Kirche, häufig mehr als zehn Personen splitternackt und kunterbunt durcheinander schliefen." Als einfache Regel galt, "wenn man sein Hemd anbehielt, signalisierte man damit der Bettgenossin oder dem Bettgenossen, daß man nicht belästigt werden möchte." Da die Kirche mittels der Ohrenbeichte bis "in die Mitte solcher Betten vordringen konnte", erhielt man im Kampf gegen die "Sittenlosigkeit" erfaßbare, quantifizierbare und kategorisierbare konkrete Beispiele. Unbefangen erzählten die Beichtenden dem Priester von Dingen, die unter dem Heidentum nicht oder kaum mißbilligt worden waren: Oralverkehr, Inzest im weitesten Sinne, weibliche Homosexualität, Masturbation und andere Positionen als die Missionarsstellung. Die Kirche antwortete darauf sehr zögerlich: zunächst gab sie den Betroffenen den Rat, sich doch sexuell zu enthalten, was dann auf mehr als 150 Tage Keuschheit pro Jahr hinauslief und somit den Eheleuten - und nur den Eheleuten - lediglich 200 Tage beließ, an denen es ihnen 'anheimgestellt war, sich zu vereinigen".

>P> 3.3 Empfängnisverhütungsmittel und Selbstständigkeit der Frauen im ausgehenden Mittelalter

Die weibliche Souveränität in sexuellen Belangen, die sich in den heterosexuellen Vergnügungen der Badehauskultur zeigte, korrespondierte mit der verhältnismäßig großen Selbständigkeit, die die Frauen im Laufe des Mittelalters in beruflichen Dingen erlangen konnten. In Köln z.B. gab es Zünfte und Gilden, in denen es nur Meisterinnen, Handwerkerinnen u.s.w. gab und die auch im Besitz von Frauen waren.

"Das Bild einer relativ souveränen Stellung im Mittelalter rundet sich auch dadurch ab, daß vor der Mitte des 14.Jahrhunderts die Prostituierten in ihren Heimatgemeinden zur Ehre gereichen und nicht - wie seit der frühen Neuzeit- ghettoisiert und staatlich drangsaliert werden. In der mittelalterlichen Kirche gibt es dabei sowohl Verurteilungen als auch lukrative Beteiligungen an den Bordellen." Was außerordentlich wichtig für die Stellung der Frau war und für unsere neuzeitlichen Ohren vielleicht befremdlich klingen mag: "Die Empfängnisverhütung war eine Gegebenheit der mittelalterlichen Kultur ." Im Mittelalter, wie auch bei fast allen sog. "primitiven" indigenen Völkern ( siehe z.B. den Artikel von J.DeMeo in Emotion" Nr. 11) verfüg(t)en die Frauen und Männer über hervorragende pflanzliche Empfängnisverhütungs- und Abtreibungsmittel. Ohne solches Wissen wäre auch eine derartige sexualfreudige Badehauskultur kaum möglich gewesen. Es gibt zudem weder im mittelalterlichen Europa, noch bei irgendwelchen außereuropäischen Völkern vor der Kolonisation Hinweise auf ungewollte Schwangerschaften, auf Säuglingssterben, Kindbettfieber oder Mütterelend. Träger dieses medizinischen Wissens über die Empängnisverhütung waren meistens spezialisierte Frauen.

4. Der Einbruch der sexuellen Zwangsmoral

Bei all den Kriegen, die im Mittelalter und in der Neuzeit geführt worden sind und von denen unsere Geschichtsbücher voll gestopft sind, findet ein Krieg am wenigsten Beachtung, obwohl er für die Geschichte der Menschheit der bedeutsamste war: der Krieg gegen das Sexuelle im Menschen. Man stößt in der Literatur über das ausgehende Mittelalter und über die sich entwickelnde Neuzeit auf einen Bruch, einen gewaltigen moralischen Umschwung hin zur Sexualfeindlichkeit , ohne daß die unterschiedlichen Berichterstatter diesen Umschwung plausibel erklären; sie beschreiben ihn lediglich nach dem Motto: Vorher war's locker, dann irgendwie nicht mehr und alles wird immer strenger."

Der schärfste gesetzgeberische Ausdruck dieser Veränderung findet sich in der Verhängung der Todesstrafe für nichteheliche Genußsexualität und der Ächtung von all dem, was damit zusammenhängt, in der von Papst Innozenz VIII. (der Unschuldige) verordneten "Hexenbulle" von 1484 und in der Constitutio Criminalis Carolina (CCC) von 1532 unter Kaiser Karl V. Die Todesstrafe für Genußsexualität erhielt damit Gültigkeit für den größten Teil des europäischen Kontinents. Das führte zu einer Art Zwangszölibat für Nichtverheiratete; heiraten konnten nur jene, die über eine entsprechende Wirtschaft verfügten. Dieser ungeheuerliche und radikale moralische Umschwung ist Folge der sog. Hexen-Hebammen-Verfolgung, die nach 1360 einsetzt und ganz Europa in ein sitten-polizeiliches Terrorregime verwandelt hat.

Diese Geschehnisse, ihre sozial-ökonomischen Hintergründe und die massenpsychologischen Folgen stellen den eigentlichen Einbruch der sexuellen Zwangsmoral in Europa dar. Fast alle emotionalen Deformationen und psychischen Störungen mit denen sich dann 400 Jahre später Legionen von Psychologen auseinandersetzen, nehmen hier ihren Anfang. Durch die Hexenverfolgung ist es zu einer gewaltsamen Übertragung der sexualfeindlichen Eigenarten eines fanatischen Teils der herrschenden klerikalen Männerbünde auf die Gesamtbevölkerung gekommen. Das war der Effekt. Oberflächlich betrachtet haben wir es mit einem frauenfeindlichen Wahn geisteskranker Kleriker zu tun. Der hätte aber durchaus auch 500 Jahre früher ausbrechen können. Hat er aber nicht. Denn der Wahn ist nur die halbe Wahrheit. Diese systematische und massenhafte Ermordung von Frauen, die Trägerinnen des tradierten medizinischen Wissens waren und die den unbeschwerten d.h. folgenlosen Sexualgenuß der unterjochten Bevölkerung ermöglichten, hatte einen kühlen rationalen Grund, dem sich alle Gelehrte und Größen der damaligen Zeit (Albertus Magnus, Roger Bacon) vorbehaltlos anschlossen. Es ging schlicht und ergreifend um die Verteidigung der reichtumsabschöpfenden Sonderinteressen der herrschenden kirchlichen und adeligen Kasten in einer ökonomisch und sozial angespannten Situation. Die Installierung und Durchsetzung der sexualfeindlichen Moral war ein Mittel um ihre Privatinteressen zu verteidigen, allerdings mit ungeheuerlichen langfristigen Folgen.

4.1 Über die Zeit, in der die katholische Kirche nur formal sexualfeindlich gestimmt war

Um den Gang der Ereignisse weiter zu illustrieren, die zur Hexenverfolgung geführt haben, müssen wir hier noch einmal kurz in die sozial-ökonomischen Verhältnisse des Mittelalters eintauchen. Die Umwandlung der Sozialstruktur vom römischen Kaufsklavenkapitalismus in eine feudal, abhängige Bauernwirtschaft vollzieht sich in einem langsamen und brutalen Prozeß, der erst im 8. Jahrhundert seine ganze wirtschaftliche Dynamik entfaltete und zu einem gewissen Wohlstand für alle Stände führte. Das wurde durch verschiedene Umstände begünstigt:

1. das Klima: zwischen 750 n.Chr. bis 1303 gab es auf der Nordhalbkugel das sog. klimatologische Optimum" .Das bedeutete, daß die lokalen Durchschnittstemperaturen höher waren als heute. Grönland war z.B. grün, weswegen es auch so heißt und an der Ostseeküste konnte man Oliven ernten. Insgesamt muß es sich während dieser Periode um ein sehr landwirtschaftsfreundliches Wetter gehandelt haben.

2. Die wiederhergestellte Bauernfamilie: die ehemaligen Sklaven wurden jetzt zu Fronbauern und Leibeigene gemacht und hatten in der feudalen Gesellschaft zumindest ein gewisses Eigeninteresse sich fortzupflanzen. So haben sie quasi durch sich selber eine stetige Produktion von Arbeitskräften in Gang gehalten.

3. Es gab verschiedene technische Neuerungen: - den schweren Wendepflug auf Rädern, - die Dreifelderwirtschaft, - das Pferd mit Zaumzeug und Hufeisen als Zugtier. Diese drei Faktoren haben die landwirtschaftliche Produktivität enorm gesteigert.

4. Die nicht sehr zahlreichen nichterbenden Söhne wohlhabender Bauernschaft wurden für die Besiedlung zweitklassiger und abseits gelegener Böden ausgerüstet. Ihnen wird faktisch die Eheschließung und Familiengründung erleichtert. Insgesamt führt das zu einem Anstieg der Bevölkerung im Jahr 1000 von 38.5 auf 73,5 Millionen Menschen im Jahr 1340. Es führte auch zu einem Lebensstandard, der auch für die Bauern erträglich war. Während dieser Zeit des Mittelalters sah sich die katholische Kirche - entgegen ihren eigentlichen und ursprünglichen Ansichten - kaum genötigt, wirklich hart gegen das freizügige und lockere Liebesleben der Unterjochten einzuschreiten.

Ganz im Gegenteil. Es gab zwar die Ächtung von Verhütung und Abtreibung, allerdings wurde das locker gehandhabt. Auf Kirchenkongressen wurden vorehelicher Geschlechtsverkehr oder Prostitution als "Unmäßigkeit" eingestuft, - ohne daß sich die Kirchenväter selber daran gehalten hätten: Während der Konzile und Kongresse, aber auch im heiligen Rom oder wo sich sonst die kirchlichen Herrn versammelten, trafen sich auch jede Menge Frauen, Prostituierte, die den Kirchenvätern stets zu Diensten waren. Die Kirche war regional an Frauenhäusern und Bordellen beteiligt und auf dem Kirchenkongress in Toledo 750 n.Chr. hat man ernsthaft diskutiert, ab wann eine Frau eine Hure ist: schon bei 40 Freiern oder erst bei 23000(!).

Auf ihre Weise haben die klerikalen Herren die Sexualfreudigkeit der Unterjochten abgewandelt und genutzt. Noch Luther konnte nicht zu Unrecht das Papsttum mit Hurerei gleichsetzen. Auch das formal strenge Kindestötungsverbot bedurfte keiner scharfen Beaufsichtigung, d.h. die Vermeidung oder Beseitigung unerwünschter Kinder wurde geduldet, solange es sich nicht um einen offenen Kindesmord handelte, solange der Moral Reverenz erwiesen wurde.

Das klingt brutal. Tatsächlich waren die mittelalterlichen Bäuerinnen in Sachen Fruchtbarkeit so weit souverän, daß sie, falls es doch zu einer unerwünschten Schwangerschaft kam, ein nicht gewolltes Kind, nach der Geburt wieder sanft in's Jenseits hieven konnten. Das geschah mit Hilfe der (Hexen-)Hebammen und nur im Kreis der anverwandten erwachsenen Frauen der Mutter. Es bedeutete aber eben auch: es gab keinen unerwünschten und infolgedessen vernachlässigten und psychisch deformierten Nachwuchs. Die Fruchtbarkeit und die Pflege von körperlicher sexueller Lust gehörten noch zu den Verfügungsbereichen der unterjochten Bevölkerung, insbesondere der Frauen. Der kollektive Selbstzwang zur Vermeidung körperlicher Lust, wie das seit 200 Jahren üblich ist, war noch nicht entwickelt. Es war auch gesellschaftlicher Usus, daß nur dort Kinder geboren werden, wo ihnen auch eine wirtschaftliche Zukunft versprochen werden konnte. Alles andere galt als verantwortungslos. Dieses Verantwortungsverständnis der Bäuerinnen und Bauern wurde ebenfalls im Laufe der Hexenverfolgung aus den Köpfen und Herzen der Menschen gebrannt; die konkrete leibhaftige Verantwortung für die nächste Generation wurde in einer abstrakten, fiktiven, moralischen Verantwortung vor Gott verwandelt. Das Bürgertum garnierte letztendlich diese von der Oberschicht gewollte faktische Verantwortungslosigkeit gegenüber den Kindern mit der romantischen Vorstellung vom Mutterglück und der bürgerlichen Kleinfamilie als Kleinod in dieser schlimmen Welt.

Part 2

J. John Trettin & Beate Freihold © copyright

    zurück zur DOS Hauptseite