Persönliche Erinnerungen an Wilhelm Reich

Ein Vortrag von Dr. Morton Herskowitz

Gehalten am 3. November 1993 an der Universität Hamburg

Aufzeichnung Beate Freihold

Herausgeber Joachim Trettin


Wir danken Morton Herskowitz für seine schriftliche Erlaubnis, diesen Vortrag publizieren zu dürfen

Ölgemälde von Morton Herskowitz in seiner Praxis


Als ich Erinnerungen zu diesem Thema zusammen trug, wurde ich mir der allgemeinen Probleme bewußt, sowie der außergewöhnlichen, als auch der besonderen Schwierigkeiten, so eine außergewöhnliche Person wie Reich zu beschreiben. Ich erinnerte mich an einen Freund und Gelehrten, den ich viele Jahre zuvor gekannt hatte, einem Mann mit wachem Verstand und scharfen Urteilsvermögen, der jedoch nirgends Reichs Tiefe nahe kam, wie er den Kreis seiner Schüler warnte: Wage es nicht jemand von euch über mich zu schreiben, niemand kennt mich. Die Bürde dieser Botschaft war nicht verloren gegangen, als ich diese Bemerkungen zusammenstellte.

Zusätzlich zum Problem des Nichtkennens gibt es eine weitere Einschränkung in diesem Bericht. Ich kannte Reich in seinen sehr professionellen Fähigkeiten, ich kannte ihn wie ein Patient seinen Therapeuten kennt und später stand ich zu ihm wie ein Patient seinem Lehrer gegenüber. Wenn er zu der Art von Therapeuten gehört hätte, die ihre Patienten ermutigen ihn zu dutzen und sie nach der Therapiestunde zu einer Tasse Kakao einzuladen, wäre dies kein besonders einschränkender Faktor gewesen. Doch Reich war in Beziehung zu seinen Patienten und Studenten absolut professionell. Niemals trat er aus dieser strikt umschriebenen Rolle heraus, obwohl er sich Berichten zufolge in seinen früheren Zeiten in Europa anders verhalten hatte.

Bei einem biographischen Bericht, besonders wenn es sich um große und ungewöhnliche Menschen handelt, gibt es immer die Möglichkeit, wenn eine Bemerkung unbedacht oder unter dem Einfluß von zu wenig Schlaf oder Zahnschmerzen geäußert wurde, aufzuschnappen und ihnen apokalyptische Wichtigkeit beizumessen. Ich glaube, daß ist der Fall bei einem Umstand wie sie Ilse Ollendorff in ihrer Biographie berichtete. Sie schreibt, daß Reich niemals wissentlich einen Homosexuellen zur Behandlung angenommen hätte und daß er einmal geäußert haben soll: Ich möchte mit solchen Schweinereien nichts zu tun haben.

So konnte es den Anschein haben, als ob Reich eine höchst uninformierte, vorurteilige Einstellung gegenüber Homosexuellen gehabt hätte. Das wäre befremdlich für jemanden der an anderer Stelle mit solch wissenschaftlicher Aufklärung über Homosexualität geschrieben hatte. Im Verlauf meiner Therapie hatte ich eines Tages Gelegenheit Reich über die Wirksamkeit der Therapie bei der Behandlung von Homosexualität zufragen und hörte seinen vernünftigen Diskurs über das Problem. Deshalb weiß ich kategorisch, daß solch ein Ereignis wie es in der Ollendorffbiographie beschrieben wurde ein Beispiel ist für solch eine Verdrehung.

Noch etwas zu diesem Thema. Ich sah neulich einen Fernsehbericht, indem einige frühere Präsidentenberater interviewt wurden. Sie alle sprachen über das Problem der Fehlinterpretation von unbedachten in schlechter Laune geäußerten Bemerkungen des Präsidenten. In einem Moment der Verärgerung konnte der Präsident schreien: Feuern sie diesen Kerl sofort. Am nächsten Tag sagte er: rufen sie ihn herein, ich muß mit ihm sprechen. Wenn der Berater so unerfahren gewesen wäre und gemäß Anweisung denjenigen gefeuert hätte, wäre sicher der Teufel losgewesen.

Bei einer solcher Persönlichkeit, wie Reich es war, wissen wir nicht wie wir das volle Ausmaß und den Eindruck dieser Persönlichkeit vermitteln sollen. Wir sagen, er war ein großer Mann, ein Genie, doch mißlingt es uns dabei die Qualität dieser Größe sichtbar zu machen. Die Ollendorffbiographie krankt an diesem Fehler und wahrscheinlich wird auch dieser Vortrag heute daran kranken. Im Grunde genommen ist es das Problem die Merkmale eines Berggipfels vom Tal aus zu beschreiben. Wir rufen aus, wie erhaben sein Anblick ist, doch fehlt uns die Schärfe um Einzelheiten die nur etwas oberhalb von uns liegen, ausmachen zu können. Wahrscheinlich gibt es keinen anderen Weg als Reich zu hören oder zu lesen, da seine Worte Tiefen in uns erreichen, wie wir sie an uns nicht kannten.

Ein letztes Wort in dieser Einleitung. Sie werden im Verlauf dieses Vortrags entdecken, wie sich meine Kleinkariertheit und Pingelichkeit offenbart. Diejenigen von Ihnen, die mit projektiven Testverfahren vertraut sind, kennen die Möglichkeiten bei biographischen Skizzierungen, daß die Aspekte des Charakters des Biographen offenbart.

Die Geschichte, wie ich zu Reich kam, ist aufschlußreich. Ich war an Psychoanalyse interessiert, seit ich als 16 -jähriger zum ersten Mal Freuds Studien über Hysterie gelesen hatte, daß ich zu einem Viertel verdaute. Zu diesem Buch kam ich auf Grund eines Streites mit einem Intellektuellen in der Nachbarschaft, der mich an einem bestimmten Punkt der Herausforderung schachmatt setzte: Du weißt ja noch nicht einmal, wer Freud ist.

An dem Punkt, an dem unsere Erzählung beginnt hatte ich bereits Jahre lang insgeheim nach einem Psychoanalytiker Ausschau gehalten. Aus der Arbeit "die Theorie der Psychoanalyse" die von einem der anerkanntesten Psychoanalytiker Philadelphias gegeben wurde, war ich mir über einige Mängel der Psychoanalyse bewußt. Mein Lehrer hatte einige meiner Fragen mit Zirkelschlüssen und klaren Doppeldeutigkeiten beantwortet, andererseits war vieles was ich gelernt hatte sehr fruchtbar und sinnvoll und ich war bereit mich für die Psychoanalyse mit ihren Lücken und Weitschweifigkeiten zu entscheiden und dies dem Stadium dieser Kunst an diesem Punkt zu dieser Zeit zuzuschreiben.

Ein älterer Freund hatte gerade Reichs sexuelle Revolution gelesen und empfahl mir das Buch. Meine Antwort war: "Dieser Kerl ist verrückt." "Woher weißt du, daß er verrückt ist," fragte mein Freund. "Jeder weiß es" antwortete ich klever. "Glaubst du nicht, du solltest zuerst eins seiner Bücher lesen und selbst urteilen", schlug er vor. Ich pflichtete ihm bei und las "die sexuelle Revolution". Das war eins der aufregendsten Leseerlebnisse meines Lebens. Viele der psychoanalytischen Fragen die ich meinem psychoanalytischen Lehrer gefragt hatte und die dieser so schwach beantwortet hatte, wurden von Reich in solcher einfachen direkten und einleuchtenden wahren Weise beantwortet, daß mir klar wurde, daß an Reich etwas besonderes dran wahr.

Ich verschlang schnell hintereinander alle erhältlichen Bücher von Reich. Am Ende dieses intellektuellen und emotionalen Banketts kam ich zu verschiedenen Schlußfolgerungen. Die Therapie die Reich beschrieb traf irgendwie tief in mir auf eine bestätigende Antwort. Dies war die Therapie, die ich machen wollte, nicht Psychoanalyse.

Ich hatte unterschiedliche Gefühle über Orgonenergie, die schien mir eine sonderliche Angelegenheit. Sie widersprach so vielem, was ich in der Schule gelernt hatte, daß ich vermutete, daß Reich hier daneben lag. Jedenfalls wollte ich nichts damit zu tun haben.

Unverzüglich entwarf ich einen Plan, wie ich vorgehen wollte. Ich wollte mich bei Reich für die Therapie anmelden, die mir so enorm vernünftig erschien und vorsichtig vorgehend würde ich mich um jegliche Erwähnung der Orgonenergie drücken. Ich rief Reich an, der zu jener Zeit in Forest Hills - New York lebte und arbeitete und er gab mir einen Termin.

Im Zug und in der U-Bahn überprüfte ich noch mal meinen Schlachtplan und ging die wenigen Blocks entlang des West-side Tennisclubs, der auf mich immer eine Ersatzfaszination ausübte, den Tennisgrößen so Nahe zu sein, und ich erreichte Reichs schönes stattliches Haus in einer schönen Umgebung.

Beim Eintritt wurde ich von Ilse Ollendorff begrüßt, die als Sprechstundenhilfe und Sekretärin arbeitete. Sie bat mich in einen bequemen Warteraum. Nach kurzer Zeit kam Reich die Treppe herunter, er trug einen weißen Laborkittel. Mein neurotischer Gedanke war: "Aha, er spielt die Rolle des Orgonenergiewissenschaftlers statt einfach nur Therapeut zu sein. Trotz dieser krankhaften Überlegung war die Wirkung des Mannes erstaunlich." Als ich ihn das erste Mal sah und solange ich kannte, hatte ich von ihm das Gefühl eines Rammbocks (Batteryram). Er war stattlich und kräftig gebaut, aber abgesehen von seinen körperlichen Ausmaßen gab es eine einzigartige Qualität in seiner Energie, die den Ausdruck von Kraft vermittelte, den man nicht übersehen konnte.

Sein Kopf war groß und saß aufrecht auf den Schultern. Ob auf Grund seiner tatsächlichen Schädelgröße oder wegen des Energiespiels im Kopf bei Reich, es gab ein besonderes Kraftfeld um seinen Kopf wie ich es zuvor nur bei 2 anderen genialen Männern gesehen hatte. Bei Einstein und bei dem Komponisten Vilaloposch. Die treffendste Beschreibung ist "Löwenhaft".

Aber niemals hatte ich solche Augen gesehen, sie waren total klar, durchdringend und drückten tiefe Traurigkeit aus. Da war keine Spur von Selbstmitleid sondern tief empfundener Weltschmerz. Später im Verlauf der Therapie entdeckte ich die Sanftheit in Reichs Augen. Ich glaube nicht zufällig bezog sich Reich in seinen Schriften auf die Augen eines Rehs. Seine Augen ähnelten Rehaugen, wie ich sonst noch keine anderen Augen gesehen hatte. Abgesehen davon waren da andere bemerkenswerte Eindrücke, die seiner blühenden Farbe und seiner offensichtlich körperlichen Kraft.

Reich fragte mich, was mich zu ihm führe, ob ich an offensichtlichen Symptomen litt, welche seiner Bücher ich gelesen hatte, welche Ausbildung ich hatte usw.. Nachdem wir diese Dinge geklärt hatten, sagte er mir, daß er mich vorläufig als Patient annehmen würde. Wir müßten aber überein kommen, daß die Therapie von jedem von uns abgebrochen werden könne. Ich stimmte zu. Danach sagte er, ich müsse ein Dokument unterschreiben womit ich mich mit seiner Entscheidung einverstanden erklärte mich notfalls psychiatrisch einzuweisen zu lassen. Ich konnte mir nicht vorstellen, daß jemals so ein Fall eintreten würde, dachte aber, falls doch, so würde ich mich einer Krankenhauseinweisung nicht widersetzen und so stimmte ich zu. Reich hat niemals solch ein Dokument ausgearbeitet und ich habe niemals eins unterschrieben.

"Und was denken sie über die Orgon-Energie", fragte er. Sie erscheint mir merkwürdig, bemerkte ich und erwartete eine Schimpfkanonade. "Natürlich ist sie das" , sagte er. "So wie sie ausgebildet sind muß sie merkwürdig erscheinen. Nun, wenn sie jemals so weit kommen, werden sie es selbst herausfinden. Sie werden die Experimente machen und selbst herausfinden, ob es Orgonenergie gibt." Eine derartig vernünftige Haltung ging über meine Erwartungen. Ich ging benommen weg und irgendwie war mir klar, daß dieser Tag einen ungeheuren Wendepunkt in meinem Leben bedeutete und ich wußte sicher, daß ich in guten Händen war.

Therapie mit Reich

Wenn ich ihn als Therapeuten beurteilen sollte, so war das auffälligste mit Reich in Therapie zu sein, sein außergewöhnlicher Kontakt. Ich beurteile mich selbst dahingehend, daß ich gute Arbeit leiste, wenn ich in der Hälfte der Zeit da bin. Wegen dieser Fähigkeit in gutem Kontakt zu stehen, erreichte er mit den einfachsten Mitteln die erstaunlichsten Wirkungen. Ich war nur wenige Minuten auf der Couch und mit dem geringfügigsten Aufwand veränderte er meine Welt. Da gibt es eine Geschichte, die mir mein Kollege Dr. Oller über seine Therapie erzählte. Er ist ein älterer Therapeut, der erste Orgontherapeut in Philadelphia. Er sagte, wenn er ein persönliches Problem hatte, daß ihn nicht glücklich machte mit Reich zu erörtern, sagte er zu sich selbst: "Ich warte und sehe zu, wie es sich entwickelt. Wenn es schlechter wird und es absolut notwendig wird bring ich es in der Therapie raus." Und er kam zu der Sitzung und er legte sich auf die Couch und Reich sagte. "Was ist es, was sie beschlossen haben mir nicht zu sagen."

Er litt niemals an falscher Bescheidenheit und sagte: "Kein anderer Therapeut kann das", oder wenn man von einer plötzlichen Einsicht getroffen wurde entgegnete er: "Ja, das habe ich schon vor zwanzig Jahren gewußt."

Ein Aspekt bei Reichs Kontakt war sein bemerkenswertes immer waches Gespür, Echtes von Fassade zu unterscheiden. Er tolerierte alle Arten krankhafter Ausdrucksweisen, das Produkt der eigenen sekundären Schicht, solange es ehrlicher Mist war. Aber er war Meister im Aufdecken von Finten, künstlichem Gehabe und Versteckspielen, also der oberflächlichen Schicht. Ich hatte die Gewohnheit mit einem solchen Versteckspiel meinen Sprachfluß zu unterbrechen, indem ich mmm, mmm machte. Er machte mich derartig nach, daß ich fast verrückt wurde und ihm am liebsten eins auf die Nase gehauen hätte. Weil ich wußte, daß er den Ausdruck der Sekundärschicht duldete, war es einfacher mit dem Produkt dieser Schicht herauszukommen. Sie werden im Verlaufe dies Vortrags sicher einen Eindruck meiner Krankheit bekommen. Ich hoffe, daß das meiste davon Vergangenheit ist.

Ich habe bereits angedeutet, daß Reichs therapeutische Haltung stets professionell und korrekt war. Es gab eine strikte Formalität. Wir nannten uns gegenseitig Doktor. Dennoch war die Atmosphäre in diesem Rahmen alles andere als kalt. Patienten berichten mir oft, daß sie Angst hätten zur Therapie zu kommen. Ich war niemals ängstlich, doch bevor ich in den Therapieraum ging, war ich mir der Notwendigkeit bewußt mich emotional in Ordnung zu bringen. Wir laufen alle mit einer Last an Smalltalk Zungenfertigkeit, Nettigkeit usw. herum. Alles das fiel an dieser Tür ab. Wir besprachen mit Reich niemals Trivialitäten. Wir waren an einem anderen Ort.

Nur zwei Mal war die Formalität zwischen uns vorübergehend außer Kraft. Beide Male war eine Krankheit Reichs der Grund dafür. Das erste Mal war es in Forest Hills. Reich litt an Zahnschmerzen und fragte mich mit einer Stimme, wie ich sie niemals gehört hatte. "Kennen sie einen guten Zahnarzt hier." Die Frage war nicht außergewöhnlich außer der Absurdität, daß er von mir annahm, der aus Philadelphia angereist kam, einen Zahnarzt in Forest Hills zu kennen. Vielmehr jedoch erstaunte mich sein Tonfall. Er hatte den Klang eines leidenden menschlichen Wesens. Das zweite Mal war es in Maine. Am Ende meiner Therapiesitzung sagte Reich: "Können sie mir mein Herz abhören und mir sagen was sie hören.?" Ich hörte ihn ab und beschrieb das Herzgeräusch, daß ich gehört hatte. Für einen Moment waren unsere Rollen vertauscht. Ich war der Arzt und er verhielt sich wie der Patient.

Ich habe angedeutet, daß Reich hart und ein Meister darin war, einem unter die Haut zu gehen. Seine Fähigkeit zur Zärtlichkeit war jedoch gleichermaßen intensiv. Seine sanften Augen ließen einen wissen, daß der Schmerz verstanden wurde. Alle unsere tiefsten Ausdrücke wurden erfaßt und verstanden.

Rückblickend kam ich zu dem Verständnis, daß es eine der Techniken Reichs war den Patienten außerhalb seines Gleichgewichts zu halten um die Energie des Prozesses in Bewegung zu halten. Ein Beispiel dazu: Etwa nach 2 Dritteln der Dauer meiner Therapie steckte ich etwa einen Monat lang in einer therapeutischen Flaute. Während jeder Sitzung gab es wenig Bewegung der Energie, doch am Ende des Monats war ich so ziemlich wieder da, wo ich angefangen hatte. Reich sagte: "Glauben sie, daß sie mit einer solchen Struktur jemals Therapeut werden können - Sie sind tot." Ich war am Boden zerstört. Alles war gut gelaufen und es gab keine Anzeichen dafür, daß ich nicht Therapeut werden könnte.

In den darauf folgenden Sitzungen bewegte sich aber wieder etwas bei mir .Vom Tage dieser Aussage an war ich mir niemals sicher ob Reich in Hinblick meines darauf folgenden Fortschrittes diese Bemerkung vergessen hatte, oder ob es ein bleibendes Etikett war. An dem Tag als Reich wenige Monate später sagte: "warum nehmen sie nicht einen Patienten in Behandlung und berichten mir über ihre Fortschritte," verließ ich Rangeley "Hosianna" singend.

Eine Methode, den Patienten außerhalb seines Gleichgewichtes zu halten war ein Prozeß, den man als Test bezeichnen könnte. In einer Sitzung kündigte Reich an "mein Honorar beträgt jetzt 100 Dollar," bisher betrug es 50. Bereitwillig stimmte ich zu, ich hätte sogar 2oo pro Sitzung bezahlt, oder sogar gestohlen um die Therapie zahlen zu können. Ich zahlte Frau Ollendorff 1oo Dollar. Und beim nächsten Besuch zahlte ich ihr wieder 100 Dollar und sie gab mir 5o zurück. Reich sagt, daß das Honorar jetzt wieder 5O Dollar beträgt, sagte sie lächelnd.

Reich war immer wachsam hinsichtlich der Aufrichtigkeit unserer Absichten und der Sauberkeit und Tiefe unserer Motivationen. Hier ein herausstehender Tag in der Therapie: Ich kam in die Therapie mit der Geschichte eines Psychiaters, der behauptete, daß Reich verrückt sei. Reich vermutete, daß ich mich hinter dieser Geschichte versteckte, und nicht den Mut haben würden zuzugeben, daß ich ihn auch für wahnsinnig hielt. Er ging dann zu seinem Kamin, nahm ein Gewehr, setzte sich dann in seinen Sessel, richtete dann das Gewehr an meinen Kopf und brummelte: "Ich bin wahnsinnig." Ich brach sofort in unkontrolliertes Lachen über diese groteske Situation aus. Das Bild des Psychiaters der das Gewehr gegen den Kopf seines Patienten richtete hatte mich so verblüfft, daß ich nicht aufhören konnte zu lachen. Als ein Manöver um zu entdecken ob ich irgendwelche Zweifel an seinem Verstand hegte, war das ein scharfsinniger Geniestreich. Ein Patient mit solchem Zweifel hätte sich bestimmt mit einem Gewehr am Kopf offenbart. Als er schließlich überzeugt war, daß tiefes Vertrauen zwischen uns herrschte, stellte er das Gewehr weg und sagte: "Machen sie das niemals mit ihren Patienten." Ich versicherte es ihm. Das war direkt zum Kern der Sache vorgedrungen. Es war die Art Manöver, die nur er erfolgreich zustande brachte.

Eine andere Art von Test gab es in der Mitte der Therapie. Reich kündigte an, daß er nach Maine ziehen würde und schlug mir verschiedene Therapeuten in meiner Nähe vor mit denen ich weitermachen konnte. "Kann ich nicht nach Maine kommen und bei ihnen weitermachen", fragte ich ihn. "Ja, wenn sie soweit fahren wollen"- ich bin mir sicher , daß ihm meine Entscheidung gefiel.

Eine ernstere Prüfungssituation, eine die viele Monate lang während meiner Therapie andauerte war, wie ich meine Loyalität aufteilen sollte. Ein Psychiater, der mir während meiner Therapieausbildung behilflich und entgegengekommen war, schlug mir als ich mit der psychiatrischen Orgontherapie begonnen hatte vor, meine Träume zu interpretieren, um herauszufinden, inwieweit die Therapie mein Unterbewußtsein beeinflußte. Es schien mir ein vernünftiges und lohnendes Projekt zu sein. Ich stellte es Reich bei unserem nächsten Treffen vor. "Ihr Dr. X will mich ausspionieren," erwiderte er. Das erschien mir als ziemlich paranoid, aber ich stimmte zu, Dr. X für die Zukunft abzusagen. In gewissen Abständen fragte Reich mich später, was ich empfand, und wie Dr. X reagierte. Ich antwortete, daß ich immer noch dachte, daß er, Reich überreagiert habe. Mit der Zeit bekamen Fragen von Dr. X zum Verlauf der Therapie einen zunehmend irrationalen Ton und seine Haltung war manifest schnüffelnd und boshaft kichernd. Reich hatte Recht gehabt.

Wenn ich als Patient Rückschau halte, so gibt es einige interessante Aspekte zu dieser Geschichte. Erstmal hatte mir Reich nicht kategorisch verboten, bei diesem Projekt mit zumachen, sondern er riet stark dagegen, zweitens gab er mir die Zeit, die Sache mit mir selbst auszumachen. Beides half mir bei meiner Entwicklung.

Weitere Anekdoten über Reich. Als Reich nach Maine umgezogen war, verließ ich meine Praxis Freitags abends gegen 21 Uhr, fuhr die Nacht hindurch und kam Samstags morgens in Maine an . Ich schlief dann ein paar Stunden und ging am späten Samstag Vormittag zur Therapiestunde. Ich hatte dann eine weitere Therapiestunde am Sonntagmorgen und fuhr dann zurück nach Philadelphia. Das war vor der Zeit der Autobahnen in New England. Ich erinnere mich besonders an den 3-spurigen Highway in Massachusetts, auf dem ich mit zusammengebissenen Zähnen die Steigung hinauf beschleunigte und betete, daß mir oben kein LKW auf der gleichen Spur entgegen kam. Bei jeder Fahrt versuchte ich den Geschwindigkeitsrekord der vorherigen Fahrt zu unterbieten. Einmal fragte mich Reich, wieviel Zeit ich von Philadelphia bis Rangeley bräuchte. "So ungefähr 12 Stunden" , antwortete ich. "12 Stunden", fragte daraufhin Reich, "so lange braucht man doch alleine von New York." " Ja," antworte ich stolz, " aber ich schaffe das von Philadelphia." Er sagte daraufhin: "Dann müssen sie ja wie ein Verrückter fahren. Sie haben zwar das Recht ihr eigenes Leben zu riskieren, wenn es ihnen so wenig bedeutet, aber nicht das Recht das Leben der anderen. Deshalb brauchen Sie erst gar nicht mehr zu kommen, wenn sie sich nicht wenigstens 14 Stunden für die Strecke nehmen!" Einmal fragte mich Reich nach meiner Abstammung und ich erzählte ihm, daß meine mütterliche Seite russisch-deutsch und die väterliche ungarisch wäre und ich sei jüdisch, fügte ich hinzu. Reich fragte : "Gehen sie in die Synagoge?" "Nein ", antwortete ich. "Dann sind sie kein Jude," sagte er. Ich dachte an die tausenden von Büchern und Artikel die im Verlauf von Jahrhunderten geschrieben worden waren und herauszufinden versuchten, ob Juden eine Rasse, Religion oder ein gemeinsames kulturelles Erbe seien. Dies alles war durch Reichs kategorisches Kriterium unmittelbar erledigt: der Besuch der Synagoge. Interessanterweise wußte ich nicht, daß Reich jüdisch war, bis ich Ilse Ollendorffs Biographie las. Für mich war die Tatsache jüdisch zu sein von viel größerer Bedeutung als die Tatsache, daß mein Vater Ungar war. Doch waren jüdische Kultur, Tradition in Reichs Leben von viel geringerer Bedeutung. Reich äußerte sich oft, daß jemand der eine organisierte Religion praktizieren würde kein Therapeut sein könne. Nur einmal tauchte eine politische Frage auf. Reich fragte mich zu meinen politischen Hintergrund und ich erzählte ihm, daß ich eigentlich unpolitisch sei. Seit meiner Collegezeit hatte ich mit dem Trotzkismus geliebäugelt in dem Ausmaß, daß ich einige Treffen besuchte und eine Zeitung gelesen hatte, doch daß mein Interesse allmählich nachließ. Reich sagte, daß Trotzki ein aufrichtiger Mensch war, daß er jedoch daran zu Grunde ging, weil er nichts über die emotionale Pest wußte. Er hatte keine Waffen gegen Stalin und somit war sein Ende unausweichlich. Diese Wertschätzung Trotzkis überraschte mich, weil er bis zu dieser Zeit nur darüber geschrieben hatte, wie hoffnungslos die Verbesserung durch politische Revolutionen sei.

Hier ein paar Beispiele des kleines Mannes während meiner Therapie. Einmal forderte ich Reich heraus, als ich fragte: "Wie kommt es denn, daß sie so einen dicken Bauch haben." Hierbei beschwor mein kleiner Mann, seinen kleinen Mann herauf, denn er antwortete: "Ich habe keinen dicken Bauch." Er hatte jedoch einen. Da ich heute selber einen habe, weiß ich jetzt über die Dummheit dieser Unterhaltung. Als wir einmal in einer Sitzung über Kindererziehung diskutiert hatten, bereitete ich für das nächste mal ein Szenario vor, um Reich zu beeindrucken. Ich würde vorsichtig das Buch Kasper Hauser in die Unterhaltung einbringen, Kasper Hauser war ein deutsches Buch über die Erziehung eines Wolfsjungen, daß nur wenige Amerikaner gelesen hatten. Dann würde ich plötzlich auf die Pointe über Kindererziehung kommen und ihm damit imponieren, daß ich international belesen sei. Zum geeigneten Zeitpunkt machte ich mein Spiel. Er sagte: "Das ist nicht relevant." Doch sein Ausdruck sagte: Ich kenne dein Spiel, das ist kindisch und albern, versuche mir bloß nicht damit zu imponieren.

Ein anderes Mal fragte er mich, ob ich seinen Artikel in der neuesten Ausgabe seiner Zeitschrift gelesen hätte und was ich davon dächte. Ich hatte den Artikel während der Eisenbahnfahrt zu meiner Sitzung gelesen und war tief davon beeindruckt. Doch als ich vor Reich meine Stellungnahme zu diesem Artikel abgab, legte ich trotz meiner Wertschätzung für den Artikel genau so viel Wert auf die Verwendung deutscher Ausdrücke in der englischen Grammatik, die ich entdeckt hatte. Er hörte mich bis zu Ende an, dann sagte er: "Ich habe sie in meinem Flugzeug auf einen Flug mitgenommen. Wir fliegen so hoch wie noch niemand zuvor und ich zeige ihnen Ausblicke, wie sie noch niemand gesehen hat. Ihr Kommentar zu alledem ist: "Hmm sehr schön, wissen sie auch, daß sie die Nägel auf dem Boden des Flugzeuges falsch angebracht haben. Ich habe eigentlich erwartet, daß sie bessere Fußböden als diese hier verlegen könnten."

Eine solch treffende Bemerkung kann ihre Wirkung nicht verfehlen. Reichs Talent für ein passendes Bild spiegelt Reichs allgemeine Fähigkeit wieder durch Verschleierungen und Ablenkungen hindurch zu dringen, um zum Kern der Sache zu kommen. Ich erinnere mich an einige seiner Metaphern, die klassisch sind. Er verglich bei der sexuellen Revolution unsere kulturelle Überbeschäftigung mit sexuellen Gedanken mit dampfbetriebenen Fabrikmaschinen. Wenn die Dampfkessel richtig arbeiten, denkt niemand an die Dampfgeneratoren, wenn sie jedoch falsch arbeiten stehen die Maschinen still, die Arbeiter werden entlassen und die Gespräche über Dampfgeneratoren sind in jeder Mannes Mund. Reichs Aussage ist also, daß unsere Überbeschäftigung mit sexuellen Dingen eine Funktion unserer falsch arbeitenden sexuellen Generatoren ist.

Ein weiterer Begriff ist Reichs Beschreibung des therapeutischen Prozesses. Der zu behandelnde Organismus hat sein eigenes Kraftsystem. Er ist eine Lokomotive und Lokomotiven schiebt man nicht. Die Funktion des Therapeuten ist es die Hindernisse, die an verschiedenen Stellen auf den Gleisen liegen zu beseitigen. Wenn diese beseitigt sind, läuft die Lokomotive von selbst.

Einmal gab es eine interessante Begebenheit, auf die ich mir bis heute noch keinen Reim machen kann. Es betrifft Lilians Smiths Buch "Killer of a dream". Ich hatte das Buch gelesen und war tief davon bewegt. Was für mich daran beeindruckte war, daß viele dieser Ansichten so reichianisch waren. Ich kam in meine Therapiesitzung und äußerte mich begeistert über das Buch und beschrieb seinen Inhalt. Reich sagte: "Das muß sie von mir gelernt haben." Damals hielt ich Reichs Stellungnahme für anmaßend und nahm an, daß Lilian Smith unabhängig von Reich zu ihren Schlußfolgerungen gekommen sei. Jahre später sah ich das Buch in Reichs Bibliothek. Ich wußte immer noch nicht ob Reich wußte, wovon er sprach.

Eine weit schwerwiegendere Schwierigkeit trat eines Tages in Orgonon auf. Ein anderer Therapeut und ich diskutierten die gegenwärtigen Behandlungsmethoden der Schizophrenie, besonders die Anwendung des Elektroschocks. Im Verlauf der Diskussion fragte er mich, ob ich jemals Elektroschock am Patienten anwenden würde. Ich antwortete : "Ja, unter bestimmten Umständen, wenn es nichts Besseres für den betreffenden Patienten gäbe", und das war Jahrzehnte bevor die Psychopharmaka und Beruhigungsmittel synthetisiert worden waren. Wenn der Patient psychotisch wäre und keine andere Maßnahme die Psychose beeinflussen könnte, dann würde ich Elektroschock anwenden, obwohl es mir gegen den Strich gehen würde. Er war empört. "Ich pfeife auf solche Patienten ",schrie er, "die einzigen Patienten, die mir etwas bedeuten sind diejenigen in Therapie, die daran interessiert sind, aus ihrem Leben etwas Besseres zu machen." Die Haltung erstaunte mich und ich zitterte vor Wut als ich in meine Therapiesitzung zu Reich ging um dies mit ihm zubesprechen.

Ich fing sofort mit dieser Geschichte an und kommentierte sie, in dem ich sagte: "Er ist ein Kommunist," wobei ich natürlich nicht den politischen Kommunismus meinte, sondern die charakterliche Roboterhaftigkeit und das Pateiideologentum. "Wie können sie nur einen solchen Menschen um sich haben." Reich überlegte eine Weile und sagte dann: "Auch die Orgonomie kann ihre Kommunisten gebrauchen." Diese Antwort machte mich sprachlos und es war eines der wenigen Male, wo mir Reichs Antwort völlig mißfiel und ich argumentierte weiter: "Wenn ich mir über etwas einig bin, dann darüber, daß schlechte Herangehensweisen niemals ein Gutes Ende nehmen können." Daraufhin Reich: "Wir werden sehen .".

Zusätzlich zu seiner technischen Befähigung gebrauchte Reich auch seine überreichlich elektrisierende Energie als Therapeut. Ich erinnere mich an eine Episode, als Reich meine Paranoia, in dem wilden Augenausdruck, wenn die Augen ganz zur Seite gedreht sind, hervorlockte und er spornte meinen Ausdruck noch an, indem er von seinem Stuhl aus Paranoia miemte. Die Irrenhausatmosphäre, die er damit schuf erreichte eine solche Intensität, daß ich befürchtete außer Kontrolle zu geraten, und ich rief :"Genug!"

Ich erwähnte bereits, daß Reich zu seinen Patienten in der Therapie einen außergewöhnlichen Kontakt hatte. Es gab allerdings auch Zeiten, wo er ins Leere starrte. In diesen Situationen, war ich nie sicher, ob er draußen bei den Galaxien war oder über eins meiner Probleme nachdachte. Ich dachte niemals daran, ihn dabei zu stören, weil ich annahm, wenn er an etwas anderes dachte, daß dies wohl von weitaus größerer Bedeutung war, als die meiner Struktur. Grundsätzlich fühlte ich Dankbarkeit für die Zeit die er mir widmete, weil ich wußte, daß er in seiner verfügbaren Zeit wichtigeres zu tun hatte. Einmal fragte ich ihn, wie er über das Therapieren dachte. Er sagte: "Zwiespältig, manchmal glaube ich, daß es nichts wertvolleres gibt als anderen Menschen zu helfen, damit sie ihren Weg zu ihrer Natur finden und dann wieder sehe ich aus dem Fenster und beobachte ein grasendes Reh, wie es in seiner Umgebung lebt und denke bei mir, was zur Hölle mache ich eigentlich in diesem Raum mit schreienden, schlagenden und tretenden Menschen."

Einmal kam ich zu früh zu meiner Sitzung und sollte im Eßzimmer auf meinen Termin warten. Sein Sohn Peter war gerade auf das Problem der stummen Buchstaben in der englischen Sprache gestoßen, das Problem warum Knife mit einem K geschrieben wird. Reich gab sofort eine Abhandlung über stumme Buchstaben mit solchem Witz und Phantasie, daß ich mich privilegiert fühlte, diesem einzigartigen Abenteuerroman über stumme Buchstaben gelauscht zu haben.

Die berufsmäßige Distanz, die Reich zu uns hielt, war ihm manchmal eine Last, wie sie für uns alle Therapeuten eine Last ist. Reich spielte Tennis mit Myron Sharaf, nicht sehr gut, wie Sharaf sagte und ich spielte Tennis mit Sharaf. Sharaf erzählte Reich, daß er mit mir spielte und daß ich ganz gut sei. Reich sagte mir, daß er einmal mit mir spielen wolle, wir spielten jedoch niemals zusammen und ich nahm an, daß das Distanzproblem das Hindernis war. Diejenigen die Tennis spielen, wissen daß es kein größeres Opfer gibt, als auf ein Spiel mit einem besseren Spieler zu verzichten.

Reich beklagte sich manchmal über die Last der Distanz. Wir alle besuchten die Square dances die Samstag abends außerhalb Rangeleys stattfanden. Reich sagte, glauben sie nicht, daß ich nicht auch gerne zum Square dance gehen würde, aber ich kann nicht. Es würde zu viele Schwierigkeiten machen.

Einmal gab er ein Fest im Studentenlabor und Reich verhielt sich wie ein besorgter Gastgeber, der sich immer wieder erkundigte, ob es uns gefiele. Sein Humor war immer ernst, niemals oberflächlich. Ich habe ihn niemals lauthals lachen hören. Er war witzig aber nicht komisch. Ich erinnere mich an eine Gelegenheit, als er mir sagte: "Die Menschen sind wütend darüber, daß Darwin ihnen sagte, daß sie Vettern des Affen wären. Warten sie bis sie erfahren, daß ich sie auf das Niveau eines Regenwurms reduziert habe", und er lachte.

Reich als Lehrer

Vielleicht ist die einfachste Art Reich als Lehrer zu beschreiben, die folgende Geschichte: Während des Sommers organisierte Reich auf Orgonon Fünftagesseminare über verschiedene Themen. Wir bereiteten uns auf einen 5 tägigen Aufenthalt vor und erwarteten jedes Mal gespannt das Treffen. Am ersten Tag stellte Reich sein Thema vor und ausnahmslos verließen wir das Seminar inspiriert und aufgeregt und konnten kaum das Seminar am nächsten Tag erwarten. Am 2. Tag machte jemand nach einigen Stunden den Vorschlag einer Kaffeepause, nach weiteren Stunden verlangte dann jemand anders nach einer Kaffeepause. Am dritten Tag gab es dann stündlich Kaffeepausen, Frischluftpausen und einige klagten über Kopfschmerzen. Am Endes des 3. Seminartages sagte Reich: "Ich glaube, sie haben genug von mir, stimmts?" Wir antworteten im Chor: " Stimmt." Selten lief ein Seminar über die vorgesehenen 5 Tage. Es gab ein zuviel mit Reich, daß einen guten Kontakt über volle 5 Tage nicht ermöglichte. Im Nachhinein denke ich mir, daß genau wie er zuviel für uns war, wir zu wenig für ihn waren und daß er uns vielleicht nur 3 Tage ertragen konnte.

Wenn wir in einem Raum mit Menschen mit deutlich weniger Energie zusammen sind wird der Kontakt lästig und wir versuchen der Situation zu entfliehen. Sein Energieniveau unterschied sich von uns nicht graduell sondern in Dimensionen. In den letzten Jahren unseres Kontaktes mit uns sagte er: "Nächstes Jahr würde ich gerne ein Seminar über Genitalität abhalten, würden sie das wollen?" Wir bejahten und er fügte hinzu: "Ich bin mir nicht sicher ob sie schon dafür bereit sind." Er gab niemals ein Seminar über Genitalität.

Reich reagierte unterschiedlich auf die verschiedenen Therapeuten. Einige Therapeuten gaben eine unkorrekte Antwort auf seine Frage und er führte sie Schritt für Schritt zur richtigen Antwort. Bei anderen reagierte er auf ihre Erklärungen so ziemlich jedes Mal als könne er sich kaum davor zurück halten zu explodieren oder sie am Kragen zu packen. Manchmal, wenn er auf der Suche nach der Antwort durch unsere Reihen hindurch ging und wir lagen mit unsere Antworten weit daneben, dann rief er ungeduldig aus: "Ich bin der einzige Orgonomist, es gibt keinen anderen Orgonomisten." Reichs Wut war, wie ich noch nie Wut gesehen habe. Er konnte ungeduldig werden , wurde aber niemals wütend während meiner Therapie. Seine Wut krachte aber über seine versammelten Studenten nieder wir ein Blitz. Ich verwende diese Metapher nicht leichtfertig. Danach schien nämlich tatsächlich eine echte dunkle Wolke über der Atmosphäre zu hängen. Ob seine Energie tatsächlich eine Wolke hervorbringen konnte, kann ich nicht sagen. Wenn wir Orgonon verließen, um nach zu Hause zurückzukehren, schien die Wolke immer noch über einem zu hängen.

Er war dem Wesen nach optimistisch. Obwohl er sich mehr als jeder andere der negativen Kräfte in der Welt bewußt war, dachte er ausschließlich in Dimensionen der Weiterentwicklung um diese Kräfte zu überwinden und niemals dran sich von ihnen niederschlagen oder in die Klemme bringen zu lassen. Er glaubte fest an die Macht der Wahrheit, nicht zu seinen Lebzeiten natürlich, sondern in wissenschaftlichen Zeiträumen. Sein Optimismus bezüglich Orgonomie war besonders lebhaft. Ich erinnere mich an den Tag, als er die Architektenzeichnungen des beabsichtigen orgonomischen Zentrums auf Orgonon erhielt. Sein Enthusiasmus war wie der eines Kindes, ansteckend, als er uns allen zeigte, wo die Universität ihren Platz haben würde und welche Einrichtung er für das Krankenhaus geplant hatte. Im allgemeinen war er ein sehr geduldiger Lehrer, der einen Schritt für Schritt zu den tieferen Schichten eines Problems führte. Was ihn am meisten an unseren Antworten störte war, daß wir unsere Antworten an der Oberfläche des Problems hielten. Wir hatten leider keinen Anteil an seinem Talent zum Wesentlichen zu gelangen. Besonders kurz angebunden war er bei mechanistischen Erklärungen und Berufsjargon war ihm ein Greuel. Mit seinen wissenschaftlichen Arbeitenden war er härter als mit den Therapeuten. Einst hielt ein wissenschaftlicher Mitarbeiter einen Vortrag gespickt mit vielen detaillierten Diagrammen zu deren Zusammenstellung bestimmt einige Wochen nötig gewesen waren. Er beendete seinen Vortrag zufrieden mit der Sorgfalt seiner Darstellung und Reich sagte: "Was wissen sie über das, was sie uns gerade erzählt haben." Der Wissenschaftler zeigte mit seinen Händen auf die Schautafeln als sprächen die für sich selbst. "Sie wissen nicht worum es geht. Sie haben uns ein Diagramm nach dem anderen präsentiert aber sie verstehen nicht was sie studieren. Sie haben uns Tabellen, Fakten und Zahlen gegeben aber ihre Tabellen sind nichts als Diagramme und Statistiken um die Tatsache zu verbergen, daß sie nicht wissen, was sie tun." Reich hatte Recht, doch konnte man nicht anders als mit dem Vortragenden Mitleid empfinden. Reich führte uns zu den einfachsten und einleuchtendsten Antworten. Vor vielen Jahren traf ich einen Physiker von Internationalem Ruf, der sagte das er jedesmal seinen Studenten eine Frage als Teil ihrer Doktorprüfung stellte. Er sagte ihnen: "Ich bin Laie, nicht einer von euch aufgeblasenen Wissenschaftlern und ich möchte, daß sie mir erklären was sie gemacht haben." Dies ist ein Teil von dem, was Reich von seinen wissenschaftlichen Kollegen verlangt hat.

Was die organisatorischen Angelegenheiten betrifft, so wollte Reiche immer, daß wir uns um unsere eigenen Angelegenheiten kümmern. Es gab da einen Therapeuten, der unsere Treffen permanent mit hysterischen Ausbrüchen und verschiedenen anderen Aufführungen unterbrach. Als Beschwerden über das Verhalten dieses Therapeuten Reich vorgebracht wurde, antwortete er :"Kümmern sie sich um ihn, es ist ihr Problem", was selbstverständlich das Beste war, was er uns lehren konnte. Offensichtlich geriet Reich einst in einen Machtblock, den ein Therapeut um sich versammelt hatte, doch das war vor meiner Zeit.

Um noch einen Augenblick auf Reich als Therapeuten zurückzukommen. Es gab Zeiten, in denen er nicht nur bildlich als Vaterfigur reagierte, sondern buchstäblich als stolzer Papa. Das erste Mal war nach meiner Entdeckung des Orgonregens, eine Erscheinung, die am leichtesten im Zwielicht beobachtet werden kann, besonders in der Nähe von viel Wasser, wobei es so aussieht, als würde es regnen. Doch nichts wird naß und es sind keine Regentropfen auf dem Wasser zu sehen. Das erstemal beobachtete ich das Phänomen als ich früh abends im Rangeleysee schwamm. Ich konnte nicht verstehen, daß es so nach Regen aussah und es nicht regnete. Dann war die Seeoberfläche aufgewühlt, es gab aber keinen Wind. Dieses Aufwühlen übertrug sich auf mich und ich konnte es nicht erwarten Reich davon zu erzählen was ich gesehen hatte. Als ich es ihm beschrieb reagierte er wie ein stolzer Vater und strahlte. Das zweite Mal gab er mir ein Orgonoskop und bat mich ihm zu sagen, was ich sehe und er freute sich über meine Beobachtungen. Beim drittem Mal war es meine Entdeckung, daß sich die Augen beim Einschlafen in den Schädel zurückziehen. Als ich Reich das mitteilte, sagte er: "Das ist jetzt eine orgonomische Beobachtung." Das stand im Kontrast zu den Gelegenheiten, an denen ich ihn mit phantastischen psychoanalytischen Einsichten kam und er mir über den Mund fuhr: "Das ist Psychoanalyse, daß ist es nicht was wir machen.". Reich sah sich selbst in seinem historischen Kontext und ich glaube, daß dies der Teil der Schwierigkeiten mit einigen Menschen war, denen sein Verhalten auffällig schien. Im öffentlichen Benehmen war er eine Person und eine historische Persönlichkeit zu- gleich. Da gab es eine Episode während seiner Gerichtsverhandlung in Portland. Die Sitzung war am Morgen zu Ende und war schlecht für Reich gelaufen. Ich stand in einem Gang als Reich den Gerichtssaal verließ. Als er mich sah, änderte er die Richtung und kam um mit mir zu sprechen. Er sprach nicht über die Katastrophe an diesem Morgen sondern über eine Buchbesprechung, die ich für die Zeitschrift geschrieben hatte. Ein Psychiater hatte eine vernichtende Kritik über eines seiner Bücher geschrieben und ich kritisierte den Kritiker. Reich sagte: "Er schlägt uns mit einem Prügel über den Kopf und sie hauen ihm nur auf die Finger." Mir tat der Tadel weh, war aber erstaunt, daß er, der um sein Leben kämpfte noch daran dachte, welchen Ton ich in meiner Buchbesprechung angeschlagen hatte.

Die historische Perspektive ist notwendig um Reichs Verhalten in der Gerichtsverhandlung zu verstehen. Das Gericht war nur an der Entscheidung interessiert ob er eine gerichtliche Verfügung mißachtet habe. Sein Hauptinteresse lag woanders. Für ihn war die Verfügung ein ärgerliches Stück Papier. Er stand vor Gericht um einen Präzedenzfall zu schaffen, für das Recht eines Wissenschaftlers in Ruhe seiner Arbeit nachgehen zu können. Er gab immer wieder bereitwillig zu, daß er die Verfügung mißachtet habe. Für ihn war die Verfügung einfach ungültig. Er wollte an die wichtigeren Streitfragen heran. Was das Gerichtsverfahren betrifft, so kann man gelegentlich Kritiken über das Verhalten der Therapeuten aus dieser Zeit lesen,- meist von Personen, die gar nicht in der Nähe des Geschehens waren, manchmal sogar Ozeane entfernt. Die Therapeuten seien nachlässig gewesen, heißt es, indem sie Reich nicht dazu rieten, den vernünftigeren legalen Weg einzuschlagen, der ihn nicht ins Gefängnis geführt hätte. Tatsache ist, daß er tatsächlich jedes Mal unsere Ratschläge suchte. Nachdem er sich unsere Argumente angehört hatte, ging er dann genau das an, was er tun wollte.

Zu einem bestimmten Zeitpunkt sagte er mir, daß er die Wahl der Verhandlung vor einem Einzelrichter oder Geschworenen haben würde, und fragte mich was klüger sei. Ich war auf die Frage nicht vorbereitet. Indem ich aber spontan die Sache durchdachte kam ich zu dem Schluß, daß Reich mit Glück einen der wenigen anständigen Richter mit intellektuellen Fähigkeiten zugeteilt bekommen könnte und er damit Erfolg haben könnte, indem er den Richter mit der Aufrichtigkeit seiner Absicht beeindrucken und ihn sogar für die größere Frage der wissenschaftlichen Freiheit interessieren könne. Wo hingegen 12 normale Menschen, deren Bilder ich mir schnell und wenig schmeichelhaft zurecht gebastelt hatte, niemals verstünden, worum es Reich ging. Ich antwortete, daß ich den Richter allein wählen würde. "Nein", sagte Reich, "ich glaube, ich werde die Verhandlung vor 12 gewöhnlichen Geschworenen wählen." Die Betonung, die er dabei dem Wort gewöhnlich gab, beschwor Bilder herauf von Thomas Jefferson, der Freitheitsstatue und den wimmelnden Menschen der Eastside. Sein Tonfall hatte "Hör zu, kleiner Mann" vergessen. Die Geschworenen, wie sie schließlich versammelt waren, nahmen sich wenig Zeit um sein Schicksal zu beschließen.

Ich möchte mit der Diskussion darüber abschließen, was im Zeitungsjargon als einer der heißesten Punkte, was Reich heute betrifft, beschrieben würde, die Frage nämlich war Reich psychotisch. Der Tatbestand, daß dieser Gegenstand die Gemüter so sehr erhitzt ist ganz einfach ein Anzeichen für die emotionale Bedeutung, die er birgt, denn wenn er verrückt war, sind dann die Dinge die er sagte und die uns so plausibel erscheinen verrückt. Und andererseits, ich wußte immer schon, daß das was er sagte verrückt war und wenn er selbst verrückt wurde war das der Beweis. Das diese beiden Vorstellungen völlig irrational und unlogisch sind trägt natürlich nichts zur Auseinandersetzung bei. Das wäre so als wenn Newton einige wilde mystische Ideen gehabt hätte. Das würde überhaupt keine Einwirkung darauf haben, was Newton über Mathematik herausgefunden hatte und daß Schumann verrückt geworden ist, hat keinen Einfluß auf die Rheinische Symphonie. Wenn wir den Hintergrund Reichs angeblicher Psychose überprüfen, entdecken wir, daß sie eine lange Geschichte hat, die bis zu den Tagen von Reich in Europa zurück reicht. Anscheinend erfand Fenichel die Geschichte, daß Reich in einer Anstalt gewesen sei. Die Geschichte, daß Reich in einer Irrenanstalt gewesen sei, war bis zu meiner Zeit zu hören. Zu Beginn meiner Therapie fragte mich ein Freund, ein Professor, der Thomas Jefferson Universität, eine der angesehensten der Stadt, was die meisten Psychiater über Reich dachten. "Die denken er ist verrückt ", antwortete ich ihm. "Nein sagte er," ich meine die verantwortlichen, die ernst zunehmenden Psychiater, was denken die über ihn?" Ich wiederholte meine Antwort und schlug ihm vor, sich an der psychiatrischen Fakultät seiner Universität diesbezüglich zu erkundigen. Da er methodisch war tat er genau das und jeder den er fragte antwortete ihm, daß Reich in einer Anstalt gewesen sei. "Sind sie sicher? " fragte er und jeder war sich sicher. Als er sie aufklärte, daß er einen Freund hätte, der zu Reich nach Forest Hills in Therapie ginge, waren sie wiederum alle echt überrascht.

Aus den Büchern über Reich können wir entnehmen, daß jeder Autor Reich beschuldigt, gerade dann verrückt geworden zu sein, wo Reich über die Beschränkung ihrer Fassungskraft oder ihrer besonderen Voreingenommenheit hinausgegangen war. Die politischen Radikalen glauben er wurde verrückt, als er sie verließ. Die Psychoanalytiker als er zur Vegetotherapie vordrang und einige Vegetotherapeuten fragten ob er übergeschnappt sei, als er in die Bereiche Orgonphysik und Biologie vorstieß. Diese Meinungen sind offensichtlich nichts anderes als der verdrehte Ausdruck der Diagnostiker.

Bei einer meiner Sitzungen in Maine flog ein Flugzeug über uns hinweg während ich auf der Couch lag. Reich sagte: "Die Airforce schickt diese Flugzeuge um beschützend über uns zu wachen." Reichs Vorstellung über beschützende Flugzeuge über Orgonon wurden von einigen Autoren angeführt, um auf eine zu jener Zeit beginnende, wenn nicht schon vorhandene Psychose hinzuweisen. Es ist interessant, daß mir niemals die Idee einer psychotischen Wahnidee in den Sinn kam, als Reich meine Aufmerksamkeit auf diese Flugzeuge lenkte. Ich dachte und sagte: "ich glaube sie irren sich, das ist wahrscheinlich ein Flugzeug, was wahrscheinlich zufällig über diese Gegend fliegt." Ich denke, daß ich wahnhafte Gedankenprozesse ebenso wahrnehme, wie jedermann. Warum spielte ich noch nicht einmal mit dem Gedanken an einen möglichen Wahn. Die Antwort liegt in der Denkweise wie sie Reich zu eigen war. Wenn man einige Zeit mit ihm zusammen gewesen war gewöhnte man sich, auch wenn das nicht immer bequem war, an große Gedankensprünge in unbekannte Territorien. Manchmal führten die Sprünge Reich dem Himmel nah, manchmal landete er auch im Matsch. Die Fähigkeit mit seiner Vorstellungskraft emense Bereiche zu umfassen, war Teil seines Genies. Für die, die gewöhnt waren, sich mit gemäßigteren Schritten zu bewegen, schienen seine Bewegungen exzentrisch, wenn nicht ungeordnet. Mehr noch, wenn eine gestörte Funktion im Augensegment für den psychotischen Prozeß pathognomisch ist, dann war Reich mit seinen außerordentlich klarem Blick sicherlich kein Kandidat für eine Psychose. Wenn Reich verrückt war, dann nur in dem Sinne, daß er sich in der Intensität unterschied mit der er sein Leben lebte und nicht im klinischen Sinn. Die Welt hat einen tiefen Verlust erlitten bis ein anderer derartig Verrückter geboren wird mit einem solchen klaren Kontakt zum Universum um ihn herum und mit einer solchen Einsicht in unsere Verrücktheit.


Joachim Trettin & Beate Freihold copyright 1997

zurück zu 100 Jahre Wilhelm Reich

zurück zur IOO Hauptseite

zurück zur DOS Hauptseite

Datenschutz


Internationales Journal für Orgonomie - PORE