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Sexualität und Aufklärung in der DDR

Die DDR - ein kleines, von Stacheldraht und bis an die Zähne bewaffneten Grenzsoldaten umgebenes Land mit grauen Plattenbauten und grauen, stinkenden Autos aus Pappe. Jeder, der hier frei herumläuft, ist entweder Kommunist oder bei der Stasi oder beides. Der Rest sitzt in politischer Gefangenschaft und wird beim Rauchen jedes einzelnen der zugeteilten kratzigen Zigarillos, Marke "SPRACHLOS" (gab es tatsächlich!), daran erinnert, dass er in der Diktatur des Proletariats besser das Maul zu halten hat. Liebe, Sex und Zärtlichkeit in diesem Ghetto? Wenn, dann nur auf strikten Parteibefehl!

Haben Sie sich so oder so ähnlich das Leben in der "Zone" vorgestellt? Auch nicht vor Ausstrahlung der allerersten Ostalgie-Show? - Nun, ich nehme an, meine ironische Übertreibung war nicht zu überlesen. Tatsächlich liegt es mir fern, hier ein Loblied auf die DDR anzustimmen, die ich als eingeborener Ossi noch 15 Jahre bis zur Wende "genießen" durfte. Ein freies und unbeschwertes Aufwachsen der Kinder gab es in diesem Staat genauso wenig wie überall in der Welt. Dennoch, gerade was den Umgang mit Sexualität betrifft, hatte der Arbeiter-und-Bauern-Staat eine fortschrittlichere Einstellung angenommen als der gesamte restliche Ostblock und auch die meisten westlichen Staaten. Mit dem nachfolgenden Bericht, der aus einigen recherchierten Fakten, aber vor allem persönlichen Erinnerungen, Eindrücken und kritischen Gedanken aus jetziger Sicht besteht, möchte ich Ihr Interesse für ein wohl weniger bekanntes Stück deutscher Geschichte wecken, das nicht in Vergessenheit geraten sollte.


Das Land der freien Körperkultur

Bereits 1958, als sich in der Bundesrepublik mit dem beginnenden Wohlstand auch der Mief des kleinbürgerlichen Spießertums ausbreitete, wurde in der DDR das Nacktbaden, zunächst an einzelnen Ostseestränden, offiziell gestattet. Seitdem entwickelte sich FKK für die ganze Familie zu einer besonderen Spezialität dieses Landes und erfreut sich hier bis heute großer Beliebtheit.

Nicht nur an weiten Teilen der Ostseestrände zeigten sich die Leute unbefangen nackt, auch an den Seen und Schwimmbädern im Binnenland war dies keine Seltenheit. Während sich in der Bundesrepublik Nudisten-Camps hinter hohen Bretterzäunen verschanzten, gab es beim DDR-Camping eine friedliche Koexistenz von FKK-Fans und Bekleideten.

Diese Offenheit führte nach der Wende des öfteren zu empörten Reaktionen jener westdeutschen Urlauber, die zwar die Schönheit der Ostsee als billiges Urlaubsziel für sich entdeckt hatten, denen jedoch der Sinn für die Schönheit des menschlichen Körpers schon lange abhanden gekommen war.


Staatlich verordnete Aufklärung

"Sexuelle Aufgeklärtheit ist ein Bestandteil der sozialistischen Persönlichkeit!" - Wer die DDR kennt, weiß, dass zu jeder wichtigen staatlichen Maßnahme die passende Parole unverzichtbar war und dies war der Leitsatz, unter dem sich ab Mitte der siebziger Jahre eine recht progressive Sexualpädagogik entwickeln konnte.

Der rechtliche Rahmen ermöglichte eine halbwegs offene Diskussion über die Sexualität und ihre Spielarten: Homosexualität wurde in der DDR seit den fünfziger Jahren nicht mehr strafrechtlich verfolgt und der "Schwulenparagraph" §175 StGB wurde 1968 aufgehoben - in der BRD, bzw. den alten Bundesländern dagegen erst 1994! Die Pille war auf Rezept kostenlos erhältlich und Schwangerschaftsabbruch war bis zur 12. Woche straffrei möglich, in besonderen Fällen auch noch später. Für die Frau entstanden auch hierbei keine Kosten. Die Abtreibung wurde dennoch als letzte Notlösung aufgefasst und es wurde eingehend über die gesundheitlichen Risiken und psychischen Konsequenzen eines solchen Eingriffs beraten.

In jeder größeren Stadt wurden staatliche Familien- und Sexualberatungsstellen eingerichtet und es fand eine Vielzahl erfolgreicher Vortrags- und Beratungsveranstaltungen zur Thematik statt. Im Fernsehen gab es die Sendung "SIE und ER und 1000 Fragen", in denen von namhaften Sexualwissenschaftlern Zuschauerfragen zur Liebe und Partnerschaft beantwortet wurden.

Ein spezielles Projekt, von dem ich leider nicht weiß, ob es ein Einzelfall war, wurde im DDR-Fernsehen vorgestellt: Schwimmunterricht für siebenjährige Kinder, der nackt durchgeführt wurde. "Für die Kinder ist dies kein Ereignis, keine Sensation", lautete der Kommentar dazu, und weiter: "Eltern, die dagegen etwas einzuwenden haben, sollten folgendes bedenken: Prüderie in der Entwicklung kann die Kinder später in Konflikte bringen." Weiter ausgeführt wurde dann sinngemäß, dass die hohe Scheidungsrate vor allem junger Ehen erwiesenermaßen auch auf falsche oder mangelhafte Sexualerziehung zurückzuführen sei. "Und wer möchte sie ihnen [den Kindern] nicht ersparen, solche bitteren Erfahrungen?".

Für alle Altersgruppen erschien zudem Literatur zur Sexualaufklärung und fand weite Verbreitung in den Haushalten. Gerade die Ausführlichkeit und nüchterne Sachlichkeit dieser Bücher empfinde ich bis heute als wertvoll, auch wenn ich mich schon manchmal über die spöttische Bemerkung geärgert habe, dass man nur in der DDR so langweilig über Sexualität schreiben könnte. Als Gegenbeweis möchte ich an dieser Stelle das Kinder- und Jugendbuch "Denkst du schon an Liebe?" hervorheben, welches immer noch oft über ebay angeboten wird.


Die Aufklärungsbibel für Jugendliche

Denkst du schon an Liebe?Der Kinderarzt und Sexualpädagoge Heinrich Brückner erörtert in diesem Buch auf gut 200 Seiten in einem leichten Schreibstil ausführlich alle Themen, die mit der Sexualität in Verbindung stehen.

Neben der biologischen Seite der menschlichen Sexualentwicklung und Fortpflanzung geht es vor allem um die vielen Fragen, die für Jugendliche in oder an der Schwelle zur Pubertät besonders wichtig werden:

  • die körperlichen und psychischen Veränderungen (z.B. Ausprägung der Geschlechtsmerkmale, "schlaksige" Figur, Pickel, fettige Haare, Stimmungsschwankungen, Konflikte mit den Eltern),

  • der Umgang mit der eigenen Sexualität (z.B. Enttabuisierung der Masturbation, erotische Aktivitäten mit Gleichgeschlechtigen als normaler Entwicklungsschritt) und natürlich

  • Liebesbeziehungen, Verhütungsmethoden, der erste Geschlechtsverkehr usw.

Ein eigenes Kapitel gibt es zur Homosexualität und in kürzerer Form zu sexuellen Abarten, wie Fetischismus, SadoMaso, Exhibitionismus u.a. Auf die Geschlechtskrankheiten Tripper und Syphilis und ihre Vorbeugung wird ebenfalls eingegangen. (AIDS war bei Erscheinen des Buches noch kein Thema und wurde auch später in der DDR immer stark heruntergespielt.)

Ein weiteres Kapitel gilt der Vermarktung der Sexualität. Es beinhaltet vor allem eine Kritik an

  • sexuell-manipulativer Reklame,

  • Prostitution als Herabwürdigung der Frau,

  • Pornographie als Reduzierung der Sexualität auf die Geschlechtsteile und

  • Verbreitung unrealistischer Männer- und Frauenklischees durch Macho- und Actionfilme

Da all dies in der DDR offiziell verboten war, war dieses Kapitel natürlich stark ideologisch eingefärbt. Das Buch kommt an dieser Stelle nicht um die in den meisten DDR-Sachbüchern zu findende einseitige und teilweise unfaire Polemik gegen den Westen herum. Trotzdem hat der Autor auch hier nicht ganz unrecht. Auch heute müsste sich eine ehrliche Sexualpädagogik sehr kritisch mit dem verbogenen Bild der Sexualität in unserer Marktwirtschaft auseinandersetzen. Dies geschieht leider noch viel zu selten.

Doch zurück zum Buch, welches in weiteren Kapiteln auch Rechte und Gesetze zur Partnerschaft, Ehe und auch dem Sexualstrafrecht in der DDR befasst und daher aus heutiger Sicht nicht mehr aktuell ist. Die Erwähnung erscheint mir trotzdem wichtig um die inhaltliche Vollständigkeit aufzuzeigen.

Abgerundet wird "Denkst du schon an Liebe?" durch viele Fotos, farbige Illustrationen und phantasievoll gezeichnete Bilder zur Einleitung in die einzelnen Kapitel.

Obwohl ideologisch und teilweise auch wissenschaftlich überholt, dürfte das Buch auch auf viele Fragen heutiger Jugendlicher noch wertvolle Auskünfte geben, vor allem ausführlicher und grundlegender als BRAVOs Dr. Sommer Team. Etwas vergleichbares wäre auch in der heutigen Jugendliteratur sehr wichtig. Ich möchte nicht ausschließen, dass es bereits einen oder mehrere Titel gibt, die den Qualitätsanspruch von Brückners Buch erfüllen, zumindest sind mir aber keine bekannt. Das mag auch daran liegen, dass Bücher zur sexuellen Aufklärung heute nicht angemessen empfohlen und vermarktet werden und damit im Waren- und Informationsüberangebot der jetzigen Gesellschaft ihre Zielgruppe kaum erreichen.


Sexualität in den Medien

Einem Westdeutschen, der das tägliche mediale Bombardement mit sexuellen Reizen gewohnt war, müssen die DDR-Medien schrecklich prüde vorgekommen sein und so wurde das in vielen Nachwende-Statements auch behauptet. Ich halte das jedoch nicht für zutreffend. Sexualität war sehr wohl präsent, wenn auch weniger häufig und aufdringlich.

Reine Sexheftchen, in denen Frauen in lasziver Pose in Szene gesetzt wurden, waren als herabwürdigend verpönt. Dafür gab es gute Aktfotos, z.B. in der Satirezeitschrift "Eulenspiegel" und vor allem im äußerst beliebten "Magazin", einer heute noch existenten Illustrierten, die u.a. erotische Geschichten und auch Fachartikel von Sexualwissenschaftlern enthielt.

Neben der schon erwähnten Sexualaufklärung in Fernsehsendungen, kann ich mich noch gut an die Serie "Erotisches zur Nacht" erinnern. Die französische Kurzfilmreihe, die da im DDR-Fernsehen ausgestrahlt wurde, handelte stets von den frivolen Eskapaden des barocken französischen Adels und gehörte damals zum Schärfsten, was über den gesamt(!)deutschen Äther ging.

Wenig prüde zeigte sich aber auch die ostdeutsche Filmgesellschaft DEFA in ihren eigenen Produktionen. Die beiden Filme, die ich an dieser Stelle als sehr bekannte Beispiele nennen möchte, sind heute noch auf DVD und Video erhältlich.

Der 1978 erschienene Jugendfilm "Sieben Sommersprossen" dreht sich um eine Liebesbeziehung, die sich zwischen einem vierzehnjährigen Mädchen und einem fünfzehnjährigen Jungen im Ferienlager entwickelt. Vor allem wegen der völlig unverhüllten Nackt- und Liebesszenen dieses Paares war der Streifen bei der DDR-Jugend "Kult". Die Botschaft hinter diesem Film ist dabei wieder die sexuelle Aufklärung: Liebesbeziehungen in diesem Alter sind normal und sollen auch von der Erwachsenenwelt toleriert und ernst genommen werden.

Der Film "Coming Out", sorgte in seinem Erscheinungsjahr 1989 wegen seiner homosexuellen Liebesszenen für einiges Aufsehen. Hier geht es um die Konflikte eines jungen Mannes, der seine verdrängte Homosexualität wiederentdeckt als er schon mit einer Frau zusammenlebt, die bereits ein Kind von ihm erwartet. Unfähig, sich wirklich zu seiner sexuellen Veranlagung zu bekennen, verheimlicht er sie einerseits vor seiner Freundin und verspielt andererseits auch die Liebe und das Vertrauen seines Freundes. So verliert er beide Menschen, bevor er schließlich langsam lernt, sich selbst anzunehmen.


Schattenseiten

Vielleicht konnte ich Sie anhand der aufgeführten Beispiele davon überzeugen, dass sich die DDR eine fortschrittliche Sexualpädagogik zu eigen gemacht hatte und es wäre schön, wenn nach der Wende mehr von diesen hoffnungsvollen Entwicklungen überlebt hätten.

Doch auch die Sexualwissenschaftler der DDR gerieten des öfteren mit der Staatsführung in Konflikt und mußten stets mit Genehmigungsschwierigkeiten oder Verboten für ihre Projekte und Forschungsarbeiten rechnen. Die Schwulen- und Lesbenszene stand ebenfalls unter staatlicher Beobachtung. Homosexualität und Dekadenz wurden nicht erst von der DDR-Führung miteinander in Verbindung gebracht und mehrere Versuche, eine eigene Homosexuellenorganisation in diesem Land zu gründen, wurden staatlicherseits als "gesellschaftlich nicht notwendig" abgewiesen.

Aber auch in der alltäglichen Kindererziehung in den Familien, Kindergärten und Schulen waren Theorie und Praxis stark unterschiedlich. Durch eine autoritäre Kinderstube belastete Eltern und Erzieher sind meist einfach nicht fähig, ihre eigenen Kinder frei und lebensbejahend zu erziehen. Dieser Teufelskreis, der immer neue Generationen von Neurotikern hervorbringt, bestand selbstverständlich auch in der DDR und so wurden auch hier Kinder geschlagen, für sexuelle Handlungen bestraft, grundlos beschimpft oder einfach mit Gefühlskälte bedacht und allein gelassen.

Und waren auch die Eltern nicht autoritär, so war es auf jeden Fall der Staat. In der sozialistischen Erziehung stand nicht der Einzelne im Vordergrund, sondern das Kollektiv, in das man sich einzufügen und unterzuordnen hatte. In die Jugendorganisationen der DDR (Jung- und Thälmannpioniere, FDJ) wurde man beispielsweise ganz automatisch ohne freie Entscheidung aufgenommen. Selbst wenn aus dem Kollektivdenken auch eine gewisse Wärme und Geborgenheit resultierte, die heute manchmal vermisst wird, bedeutete dieser Grundsatz doch vor allem Druck und Enge, die einer freien Entfaltung der Persönlichkeit diametral entgegen standen.

Dann war da natürlich das alltägliche angsteinflößende Szenario der Bedrohung. Zum einen war klar, dass man nicht überall sagen konnte, was man wollte. Die Bespitzelung durch die Stasi war natürlich real und kam man in deren Fänge, ging es in der Regel nicht nur einem selbst schlecht, sondern gleich der ganzen Familie. Aber als Normalbürger wusste man ziemlich gut wo man was und wieviel sagen durfte. In der Öffentlichkeit passte man sich an und zu Hause wurde dann der Seele Luft gemacht und auf Staat, Führung und Partei geschimpft. Fast wie heute auch, könnte man meinen. Allerdings wurde gleichzeitig den Kindern eingeschärft, dass sie all dies auf keinen Fall weiter erzählen durften, wenn die Eltern oder sie selbst nicht in Teufels Küche kommen wollten. Für die Kinder bedeutete dies im Klartext, dass Aufrichtigkeit gefährlich, ja verboten war, obwohl in der Schule genau das Gegenteil erzählt wurde: "Wir Thälmannpioniere lieben die Wahrheit, sind zuverlässig und einander freund." (Aus den "Geboten der Thälmannpioniere")

Schlimmer als dies empfand ich allerdings die im Volksmund mit "Rotlichtbestrahlung" bezeichneten ideologischen Phrasendreschereien, die zu einem großen Teil aus Angstmacherei vor dem Westen bestanden, der den Frieden bedroht. Dieses Feindbild wurde immer wieder beschworen und gleichzeitig die Stärke der eigenen Armee gepriesen und die Notwendigkeit der Bewaffnung betont. Probealarme in den Schulen versetzten mich ebenso in Angst, wie das Geheul der Feuersirene. Ich dachte dann immer "Hoffentlich nur Probe oder ein Brand, HOFFENTLICH geht jetzt nicht der Krieg los!", und ich vermute, dass es mir nicht allein so ging.

Sie können sich sicher vorstellen, dass unter all diesen Umständen ein ungehemmtes, glückliches Aufwachsen der Kinder von vornherein unmöglich war, auch wenn von der Staatsführung unter Verweis auf die allesamt kostenfrei angebotenen umfangreichen sozialen Leistungen gern das Gegenteil behauptet wurde...


Schlussbemerkungen

Ich hoffe, Ihnen nun einen zwar persönlich geprägten und sicher unvollständigen, aber doch einigermaßen informativen Eindruck vermittelt zu haben, wie die DDR mit dem Thema Sexualaufklärung umging und welchen speziellen repressiven Einflüssen die Kinder hier ausgesetzt waren.

Nun bleibt die Frage, ob und welche Auswirkungen die ostdeutsche Variante der Sexualpädagogik tatsächlich auf das Leben der Bevölkerung hatte. Ich traue mir nicht zu, diese Frage endgültig zu beantworten. Ich habe jedoch den Eindruck, dass viele Ostdeutsche einen natürlicheren Zugang zum Thema Sexualität haben und es ihnen auch leichter fällt, direkt darüber zu reden.

In einer SAT1-Reportage zur DDR, in der es auch um die Themen Sex und Liebe ging, wurde aufgeführt, dass die jungen Leute hier im Vergleich zur BRD

  • eher den ersten Sex hatten

  • eher heirateten

  • mehr fremdgingen

  • sich öfter scheiden ließen

Dies deutet wohl auf einen freieren Umgang mit Sexualität und Partnerschaft hin. Dazu möchte ich ergänzen, dass die DDR Eheschließungen bis zum 25. Lebensjahr mit einem großzügigen Ehekredit belohnte, was sicher auch eine große Zahl wenig aussichtsreicher Partnerschaften erst aufs Standesamt und später vor den Scheidungsrichter brachte.

In der erwähnten SAT1-Sendung befragte ostdeutsche Promis, welche ihre Jugend in der späten DDR verbracht hatten, stützen meinen eigenen Eindruck mit Aussagen, dass der Umgang mit der Sexualität in der DDR lockerer und natürlicher war und dass ostdeutsche Frauen in Partnerschaften eher bereit sind, konkret zu sagen, was sie wollen. Ebenfalls viele Bestätigungen habe ich auch schon zu der Aussage gehört, dass Ost-West-Partnerschaften oft schlecht funktionieren, da die Partner eine unterschiedliche Sprache sprechen, sich gegenseitig nicht verstehen.

Ich möchte auch behaupten, dass in der DDR einfach viel mehr Zeit für Lust und Liebe war. Beruf, materieller Wohlstand und Karriere spielten eine viel geringere Rolle als heute. Einen Job hatte jeder und auch genug Geld, um einigermaßen über die Runden zu kommen. Man war sehr gesellig und es wurde bei allen möglichen Gelegenheiten gefeiert. Dabei ergaben sich natürlich auch immer wieder Liebschaften oder erotische Abenteuer.

Das Warenangebot in der DDR war bekanntermaßen spärlich und so genoss man das wenige, was man hatte um so ausgiebiger und eben oft in Gesellschaft. Die Sehnsucht nach der westlichen Warenwelt war indes groß. Und trotz aller Aufklärungsbemühungen des DDR-Staates, der ja Pornographie als entwürdigende Reduzierung der Sexualität auf die Geschlechtsteile ablehnte, war man nach der Wende heißhungrig auf entsprechende Filme, wie überhaupt auf alles, was vorher verboten oder schlicht nicht erhältlich war. Diese Lust am Unbekannten ist natürlich erst einmal ganz verständlich. Der Porno-Markt in seiner ganzen Bandbreite fand aber auch in den neuen Bundesländern dauerhaft genug Nachfrage, um sich schließlich fest etablieren zu können. Dies beweist, dass die sexuelle Hemmung mit all den Auswirkungen, die in vielen anderen Texten auf dieser Website dargelegt werden, nicht einfach durch die offizielle Anerkennung fortschrittlicher sexualpädagogischer Konzepte beseitigt werden kann. Dem weiter oben schon genannten Problem der Umsetzung derartiger Ideen durch sexuell gehemmte Erzieher in einer allgemein gehemmten Gesellschaft als Ausgangsbasis wurde wahrscheinlich auch in der DDR zu wenig Bedeutung beigemessen, falls es überhaupt erkannt wurde. Zumindest reichten die etwa 15 Jahre Aufklärungsarbeit bis zur Wende zeitlich nicht annähernd für eine tiefer greifende Auflösung der fest sitzenden sexuellen Hemmungen und Frustrationen in der durchschnittlichen Persönlichkeitsstruktur aus.

Der Psychoanalytiker Wilhelm Reich, der die Ursachen und Probleme der charakterlichen Hemmung des zivilisierten Normalbürgers bisher am konsequentesten erforschte, fand heraus, dass sexuelle Repression unterwürfige, folgsame Menschen hervorbringt. Mit diesem Wissen frage ich mich, was eine Diktatur wie die DDR dazu bewegt hat, sich überhaupt eine progressive Sexualpädagogik zu leisten. Wahrscheinlich war den Funktionären der Zusammenhang nicht bewusst. Vielleicht liegt es auch daran, dass insbesondere die katholische Kirche als Hüterin der versagenden Sexualmoral in der atheistisch geprägten DDR fast keinen Einfluss hatte, ganz anders als in vielen westlichen Ländern. Schließlich wollte man in Konkurrenz zum Westen auch immer besonders sozial, modern und aufgeklärt erscheinen.

Die Menschen der DDR haben sich aus ihrer Diktatur in einer friedlichen Revolution schließlich selbst befreit. Dies ist bis heute einzigartig in der Geschichte und viele glückliche Umstände mögen dazu beigetragen haben, dass es so kommen konnte. Vielleicht trug auch die fortschrittliche Sexualaufklärung ein Scherflein dazu bei, dass die Sehnsucht nach einem freieren Leben schließlich über die Unterdrückung siegen konnte. Wilhelm Reich hätte sich darüber auf jeden Fall gefreut.


Copyright 04.02.2004 by Hansjörg Scheibe-Keßler




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